»were here«, der Titel deutet es schon an. In Oliver Husains essayistischem Kurzfilm geht es um Spuren, die Menschen hinterlassen, an einem konkreten Ort oder aber in den Köpfen der anderen. Hier, das ist ein altes, mittlerweile verlassenes Haus in der St. Marks Road in Bangalore. Eine Frau, eine der letzten Bewohnerinnen, kehrt immer wieder zu ihm zurück. Jeder Besuch ist auch eine Reise in die Vergangenheit, zu den Menschen, die dort einst zusammengekommen sind. Eine Geschichte schält sich heraus. 1976, zur Zeit des Ausnahmezustands in Indien, wurde die Künstlerin, Schauspielerin, politische Aktivistin und Flamencotänzerin Snehalata Reddy verhaftet und ohne Anhörung ins Gefängnis von Bangalore gesperrt, wo sie im Januar 1977 verstarb. Aber in dem Haus und den Erinnerungen, derer, die dort zuhause waren, ist sie noch präsent. Jede Rückkehr bringt Husains Protagonistin Snehalata näher. Am Ende wird sie ein Flamenco-Kostüm tragen. Menschen können unterdrückt werden, ihre Ideen bleiben.
So hoffnungsvoll sind allerdings nicht alle 23 Beiträge des deutschen Wettbewerbs. Das Jiu-Tal war einst eine blühende Industrieregion Rumäniens. Mittlerweile gleicht es einer postindustriellen Geisterlandschaft, deren Tristesse Alexandra Gulea in »Valea Jiului – Notes« in winterlich grauen Bildern heraufbeschwört. Über den Bildern erzählen Stimmen von Kindern, deren Mütter in Italien arbeiten und die mit ihrer Einsamkeit nicht klarkommen. Manche bringen sich schließlich sogar um. Armut und Hoffnungslosigkeit zerstören gleich zwei Generationen. Während in Rumänien ganze Landstriche sterben, blüht die mazedonische Hauptstadt Skopje auf. Dort ist alles »Bigger Than Life«, also opernhaft und letztlich falsch. Wie ein Musikstück hat Adnan Softić seinen Essayfilm komponiert, in vier Sätzen, die den mazedonischen Größenwahn ironisch begleiten und kommentieren. Alexander über allem. Eine Stadt feiert sich als Wiege Europas und verliert vor lauter Reiterstandbildern das Wesentliche aus dem Blick.
Eine Ausstellung in der Berliner U-Bahnstation Schillingstraße legt zwei Fährten in die deutsche Vergangenheit. Die erste führt in die DDR der frühen 1980er Jahre, die aktiv die namibische Befreiungsbewegung unterstützte, die zweite ins Kaiserreich und nach Deutsch-Südwestafrika zum Völkermord an den Hereros. Ohne die U-Bahnstation zu verlassen, folgt Laura Horelli in »Nambia Today« beiden Spuren. Verbindungen zwischen der deutschen Kolonialgeschichte und dem antiimperialistischen Kampf gegen die Herrschaft Südafrikas über Nambia ergeben sich wie von selbst. Alles hängt zusammen, auch in Cyrill Lachauers experimenteller Dokumentation »Dodging Raindrops – A Separate Reality«. Auf den Spuren Carlos Castanedas reist Lachauer durch den Südwesten der USA und entdeckt ein Land am Abgrund. Die Gewalt in den afroamerikanischen Vierteln der Großstädte und die Kriege der letzten 50 Jahre haben schwärende Wunden hinterlassen.
In »Pirate Boys« wirft Pol Merchan einen Blick zurück in die 1990er Jahre. Del LaGrace Volcanos Foto von Kathy Acker mit freiem, von Narben gezeichnetem Oberkörper wird zum Ausgangspunkt zu einer Reflexion über sexuelle Identitäten. Das Leben der Pirate Boys und queeren Punks weist dabei zugleich in eine offenere Zukunft. Die alten Fotos und Filmaufnahmen, die Merchans Dokumentation zusammenführt, bekommen neue Bedeutung. Im Vergangenen liegt auch das Utopische.
Drei Männer besuchen zusammen die Alexander-Kluge-Ausstellung im Museum Folkwang. Während sich der Filmemacher Tom Briele mit seinen beiden Begleitern über Kluge und die Musealisierung seines Werks unterhält, legen sich Bilder über Bilder. Die digital erzeugten Mehrfachbelichtungen verleihen »2017_11_15 Protokoll – Pluriversum. Besuch einer Ausstellung« etwas Enervierendes. Die Bilder einer Ausstellung verschwimmen, wie die Vergangenheit, zu deren Chronist Kluge wurde. Das Diffuse verstört, öffnet aber auch den Blick für Tendenzen der Verhärtung. Während Tom Briele auf das Widerständige in Kluges Werk setzt, erzählen Stefan Ramírez Pérez und Benjamin Ramírez Pérez in »Confluence« von der Instrumentalisierung von Kunst und Pop. Ihr Porträt des serbischen Popstars Doris Bizetić vermischt Biografisches mit Reflexionen über die Geschichte Belgrads. Wie die Architektur ist auch die serbische Popkultur Ausdruck nationaler Erzählungen, denen sich die Sängerin nicht entziehen kann.
Experimentelles überwiegt im deutschen Wettbewerb, selbst in den von Genremotiven und -strategien geprägten Filmen. Ein Vorhang bewegt sich, dazu erklingen Geräusche, die von einer Fledermaus stammen könnten. Mehr braucht es in Romeo Grünfelders »Chiroptères« nicht, um unterschwellige Anspannung zu provozieren. Der Horror wurzelt hier wie auch in »Apartment Monologue« im Alltäglichen. Als Hedda Schattaniks und Roman Szczesnys Film einsetzt, ist schon alles geschehen. Ein Akt brutaler Gewalt hat den Ort der Tat verwandelt. Also wird das Haus, in dem der Mord geschehen ist, zum Erzähler. Die Räume selbst erinnern sich an die Vorgeschichte des Verbrechens. Eine brüchige Chronik entsteht, die Fragen aufwirft, aber kaum Antworten gibt. Verfremdungen offenbaren die Abgründe, die sich hinter dem Gewöhnlichen verbergen. So betrachtet Katarzyna Hertz in »News from Borussia« das Treiben in einem Berliner Mietshaus durch die Augen eines kleinen Mädchens, das die Wirklichkeit in ein Puppenspiel verwandelt. Es könnte aber auch sein, dass sie mit ihren Papierfiguren neue Realitäten schafft. Das Kind als unschuldiger, aber auch grausamer Gott, dessen Welt einem Märchen ohne Sinn gleicht.
Märchenhaften Touch hat auch Willy Hans’ »Das satanische Dickicht – Drei«. Eine Familie verbringt einen Sommertag auf einem Campingplatz am See. Nur hält die Vier nichts mehr zusammen. Jeder geht seiner Wege. Wie im Märchen müssen sie sich erst verlieren, bevor sich doch noch alles zum Guten wendet. Hans spielt mit Horrorelementen, um vom Zerfall der Gesellschaft zu erzählen. So bleibt ein Stachel zurück. Das Happy Ending ist anders als im Märchen die reine Ironie. Eine böse Ironie wohnt auch den strahlend bunten Strandimpressionen aus Clara Winters und Miguel Ferráez’ »Beyond Beach« inne. Das lateinamerikanische Strandparadies wurde zum Tummelplatz wohlhabender westlicher Hedonisten. Die Europäer, Australier, Kanadier und US-Amerikaner, die diese von Houellebecq inspirierte Fiktion mit eisigem Blick porträtiert, treiben dem Untergang entgegen. Ihre Ungebundenheit ist kein Zeichen von Freiheit, sondern von Gleichgültigkeit. Irgendwann werden sie in der Leere, die hinter Winters und Ferráez’ Bildern liegt, verschwinden. Ein Blick hinter die Bilder wirft auch Jens Pecho. »Three Casualties« erzählt anhand von Found-Footage-Material vom Tod dreier Stuntmen und der Indifferenz der Filmindustrie, die im wahrsten Sinn über Leichen geht. Pecho gibt Jean Cocteaus Diktum vom Film, der dem Tod bei der Arbeit zusieht, eine höchst reale Dimension.