TEXT ANDREAS WILINK
»Cosmorama«, der Titel des Kurzfilms von Eren Aksu, taugt als Oberbegriff für eine ganze Reihe von Arbeiten im nationalen Jahrgang 2016, der sich mit dem Zustand der Schöpfung und seiner vorgeblichen »Krone« beschäftigt. Passagiere auf hoher See haben sich fürs Strandvergnügen eingeschifft. Die touristischen Müßiggänger sonnen sich im Sand, Körper an Körper, Haut an Haut. Ein Pärchen schält sich heraus, schaut gelangweilt in die Ferne auf eine wie hingewürfelte betonierte Hochhaus-Silhouette. Abriss oder Aufbau, Verfall oder Bau-Boom lassen sich bei genauem Besehen kaum unterscheiden. Nach uns die Zukunft!
Ihre nahen Verwandten sind die wie animiert wirkenden, virtuell weiblichen und männlichen Zivilisationswracks, die sich einem kollektiv gleichförmigen Freizeit- und Erholungsangebot überlassen (»In between identities«, Aleksandar Radan). Und ebenfalls die wie in einem diffus verwischten, farbintensiven Drogenrausch bewegten vier Frauen, träumerisch gelenkt durch ihre angstbesetzten, unheimlichen Puppenstuben. Der »Taste of Evil« dieser Fantasie wird durch die englischen Untertitel erzeugt, die aus Horror- und Suspense-Kinodramen stammen. Benjamin Ramírez Pérez hat sie für sein Kunststück »A Fire in My Brain That Separates Us« als Leihgabe übernommen. Wobei er als ehemaliger Student der Kölner Kunsthochschule für Medien gewiss das Patronat des Großmeisters des Found-Footage, Matthias Müller, produktiv zu nutzen wusste. Von den 24 Beiträgen des deutschen Wettbewerbs entstanden übrigens nur wenige an renommierten Filmschulen.
Was ist aus unserer Schöpfung geworden? Augenscheinlich muss eine andere Genesis geschrieben werden. Etwa so: Gott klärt im Ersten Buch Mose die Dinge, ordnet, benennt und scheidet sie – in Tag und Nacht, in Wasser, Feuer, Luft und Erde, Sonne, Mond und Sterne usw. Christoph Girardets »Synthesis« zeigt mittels vorgefundener Werbe- und Industriefilme zu der biblischen Ursprungs- Erzählung chemische Labor-Experimente. Substanzen verbinden sich in Reagenzgläsern und Phiolen, Bläschen blubbern, schlierige Mischverhältnisse ergeben sich; es rotiert, brodelt, wallt und wabert, Organisches wimmelt unterm Mikroskop, Versuchstiere krabbeln, menschliche Gliedmaßen und Körper geraten in konstruktive Bewegung. Es ist die Feier der Erkenntnis einer (gottgnädigen oder gottlosen) Wissenschaft. Am Ende sehen wir eine Wurfscheibe, auf deren Fläche Pfeile nicht ganz ins Zentrum treffen. Die Schöpfung – ein kosmischer Zufalls-Akt? Oder ein toter Garten Eden mit ausgeweideten, künstlich »vital« gehaltenen Lebewesen. Die Welt erscheint als Forschungseinrichtung, als Manipulations-Zentrale menschlicher Anmaßung – wie in dem Tierpräparations-Institut, wo Affen, Vögel, Wolf und Reh, wilde Tiere der Berge oder der Steppe Afrikas ausgeweidet, eingelegt, verwandelt und dauerhaft zur Ansicht und Schaulust zubereitet werden. Tote Objekte (»Arrangement of Skin«, Karsten Krause).
Die Gegenwart hat einen Knacks: in der erzählerisch und akustisch elegant auskomponierten Studie des Unbehaust-Seins mit beklemmenden Geisterstadt-Ansichten, »Plateau« (Vanessa Nica Mueller), in dem impressionistisch-comichaft-stilvariablen Split- Screen-Porträt eines Stadtviertels von Manchester oder in »Wunschkonzert« (Marlene Denningmann), darin sich werbewirksam- schöne Ortsansichten der idyllischen Provinz-Gemeinde Rastede ironisch-herzlos mit Zukunftsmusik aufladen.
Auch in »Sites« waltet über uns das All, rauscht der Ozean, erheben sich Bergmassive. Der Mensch will die Natur bezwingen und sie sich untertan machen; er stellt Berechnungen an, misst aus, kartografiert, bestimmt Breiten- und Längengrade, registriert. In dem fabulös aufgelösten »Sites« von Volker Schreiner geschieht dies als raffinierte Kompilation, gestaltet zum Clip-Triptychon mit Ausschnitten aus Dutzenden von Spielfilmen wie »Bounty«, »Titanic«, »Cape Fear« oder » In 80 Tagen um die Welt«. Das Material hat sich dabei so abstrahiert, dass sich nicht mehr erkennen lässt als das rein Elementare. Die Essenz des absoluten Films. Man könnte es ebenso assoziative »Eselsbrücken« und Gedächtnisstützen (»Mnemonics«) nennen, wie Agnieszka Jurek es tut, die gleichfalls vorgefundene und übernommene Ausschnitte /Texte /Szenen aus der berüchtigten Wannsee-Konferenz u.a. mit Märchenmotiven der »Schneekönigin« und »Kleinen Meerjungfrau« kombiniert und zur kuriosen Miniatur-Globalkritik mixt. Vom großen Ganzen, durch das der Weltatem weht, wechselt die Auswahl 2016 heim ins Profane, schal Banale (Wochenend-Trip sechs Jugendlicher in »Philosophieren« von Paul Spengemann), ins Kleinteilige, individuell Menschliche oder aber in die politische Rekonstruktion bzw. Konstruktion. Da wirkt das Naturschauspiel von Meeres-Wogen und Strandläufern schon mal wahllos oder wenigstens derart subjektiv, dass es kaum nachvollziehbar ist (»Four Diamonds«); oder etwas verschlüsselt sich theorielastig wie in einem Video von Vika Kirchenbauer.
Parallel zu Schreiners, Girardets, Ramírez Pérez’, Jureks artifiziellen und originellen Collagen kann auch eine »reale« türkische Migrations-Biografie zerlegt, gerahmt, vor den Bluescreen gesetzt, mit Google Map manipuliert, durch Ein- und Überblendungen örtlich verschoben, deutlich als Nachstellung gekennzeichnet und passenderweise »Ohne Titel« (von Aykan Safoglu) bezeichnet werden, weil das Authentische zum Spielmaterial wird, das sich am Ende wiederum neu zusammensetzt und in seinen Splittern tatsächlich ein familiäres Drama und politisches Schicksal zur Darstellung bringt.
Ähnlich montiert ist »Transmission from the Separated« (Filipa César) über die Befreiung Guinea Bissaus von Portugals Kolonialherrschaft in den 1960er Jahren – eine mehrfach verlinkte, experimentell angelegte Skizze aus Bildern, Zeugenaussagen, der Selbstbestimmung und Reflexion einer historischen Situation. Solche »Familiar Memories« gibt es einige in Oberhausen, die sich essayistisch und visuell außergewöhnlich präsentieren, ohne doch jedes Mal den Allgemeinplatz zu überwinden.
Diese Einschränkung gilt nicht für das dokumentarische 16-Millimeter-Material, das Clemens von Wedemeyer in zurückhaltend kluger Kommentierung aufbereitet und begleitet: »Die Pferde des Rittmeisters Harald von Vietinghoff-Riesch«, dem Großvater des Filmemachers, wurden im Zweiten Weltkrieg bis zur Erschöpfung und Todesqual eingesetzt – der Krieg selbst aber, Massaker und Gewalttaten aus Polen und der Ukraine, liegt hier zwischen den Bildern.
Oder vielleicht lieber in die extreme Nische ausweichen? Ein Mann wird gewindelt, in den Laufstall gesetzt und mit einem Teddy im Arm zum Spielen befriedigt. Ein älteres schwules Paar, beide im früheren Leben heterosexuell verheiratet und Familienväter, praktiziert vor der Kamera seinen Fetisch. Was Regisseur Jan Soldat humoresk »Coming of Age« tituliert, erinnert an eine Milieustudie von Ulrich Seidl oder Praunheim. Das Praktizieren der sexuellen Vorliebe ist einem ein bisschen peinlich. Eigentlich will man es nicht so genau wissen (und sehen), jenseits der grundlegend psychoanalytischen Einsicht, dass es unendlich viele Muster und Modelle erotischer Beziehungs- und Triebstrukturen gibt.
Doch ist nicht jeder Film ein Übergriff – und die seelische Spiegelung der Bruch mit einem Tabu? Aber über die Ursprünge und Zeiten magischen Zaubers sind wir hinaus, oder doch nicht?
Kurzfilmtage Oberhausen, 5. bis 10. Mai 2016; neben dem Internationalen und deutschen Wettbewerb gibt es den NRW- und Kinder-/Jugendfilm-Wettbewerb sowie den MuVi-Preis; das »Thema« gilt der »Suche nach dem neuen Lateinamerika«; die Sektion »Profile« widmet sich den Filmemac hern, Autoren und Künstlern Josef Dabernik (Österreich), Sun Xun (China), Raquel Chalfi (Israel), Jeanne Faust (D) und Anne Haugsgjerd (Norwegen).