Es gibt noch das andere Amerika, auch wenn es von fern her Gestalt annimmt und sich im Auge eines Deutsch-Norwegers spiegelt. 2003 drehte Bjørn Melhus »Auto Center Drive« (2003) als ideologiekritische Begegnung mit einem mythischen Land, von dem man fasziniert sein kann, besessen, abgestoßen und – unbewusst oder auch hochbewusst – beeinflusst: von Amerikas wundervollen und schlimmen Ur- und Trivial-Bildern, seinen Wolkenkratzer-Cities, die Melhus sich schon mal aus Manhattan und San Francisco mixt. Kalifornische Wüsten und Prärien werden durchquert, begleitet, überwacht oder beschützt von einem tough guy und Bodyguard. Straßen heißen hier »Paradise Road«. Wie Zikaden singende Rasensprenger besprühen die Grünflächen vor Eigenheimen. Es ist eine David-Lynch-Szenerie und könnte gleichzeitig die Oberfläche des Planeten der Affen abbilden, nach der die Zivilisation vernichtenden Menschheits-Katastrophe.
Die Grenze zwischen Utopie und Dystopie, zwischen analytischer Schärfe, Dekonstruktion und zärtlicher Zuneigung verläuft dabei nicht unbedingt geradlinig. Man will für die Träume seiner Jugend Achtung tragen und kann es doch in erwachtem Zustand nicht mehr guten Gewissens. »Rosebud« – Citizen Kanes / Orson Welles’ berühmte Geheimformel – ist ein Schlüsselwort zu diesem Phänomen untröstlichen Trostes.
Betrauert Melhus das Schwinden von Idyll und Heimat – in der norwegischen Spurensuche »Center of the World« (2010) –, ohne vermutlich so recht an deren Bestand zu glauben? So wenig wie an die Zukunft als bessere Welt. Amerika jedenfalls, sagt er, dieses Land der immer auch »komischen Simulation«, betrachte er spätestens seit der Jahrtausendwende, seit Bush, dem Irakkrieg und seiner darstellenden Begleitung auf CNN noch kritischer.
Hoch hinaus. »Flying high« singt in »Auto Center Drive« der in der Sonne liegende Lockenkopf und träumt sich ins große Blau, während am Himmel ein Flugzeug kurvt. Ein anderer wiederholt litaneihaft »man has a choice«. Es ist immer derselbe, ist in selbstironisch narzisstischer Pose Melhus selbst, der sich in seinen Projekten klont, travestiert, maskiert, reproduziert. Seine geschlechterübergreifenden Figuren und Alter-Ego-Variationen sprechen (wie aus nicht vorhandenen Sprechblasen) fremde Texte, mit denen und durch die Melhus seine kritische Masse gliedert. Er bleibt als Charakter und Ich sichtbar und unsichtbar zugleich, entzieht sich, indem er sich präsentiert: »ein Platzhalter, eine Variable« sei er, sagt er. Wie in seiner knappen zoologischen Recherche könnte er fragen: »Ich weiß nicht, wer das ist« (1991)?
Melhus durchmisst – als sich gelegentlich wissenschaftlich gebender Künstler-Tausendsassa – Zeit und Raum. Mal träumt er sich in ein Phantom-Amerika, das Comic-Helden, Hollywood-Ikonen, Pop-Idole und überhaupt trivialmythische Chiffren zitiert, die ihre monströsen Auswüchse bereits enthalten. Da säuselt er wie Marilyn, lässt die Mickey Mouse ballern und Jim Morrison, Jimmy Dean und Elvis auferstehen. Oder er entert als »Captain« (2005) die Enterprise und die unendlichen Weiten in bräunlichen Pappmaché-Kulissen.
Bjørn Melhus ist bzw. bekommt eines der »Profile« der Oberhausener Kurzfilmtage: eine Werkschau seiner experimentellen, indes höchst anschaulichen, unterhaltsamen und raffiniert erzählerischen Arbeiten mit ihren sprachlichen und visuellen Loops. Melhus, der in der Film- und Video-Klasse von Birgit Hein an der HBK Braunschweig und mit einem DAAD-Stipendium am California Institute of the Arts in Los Angeles studiert hat, ist seit langem Professor an der Kunsthochschule Kassel für Bildende Kunst/Virtuelle Realität und auf Europas Filmfestivals ebenso zuhause wie in der Tate Modern London, dem Pariser Centre Pompidou und dem Museum of Modern Art in New York.
Der 1966 geborene, in Berlin lebende Filmemacher und Medienkünstler weitet in seinen Kurzfilmen, Videos und Installationen den Blick vom Persönlichen und dem eigenen Erinnerungs-Reservoir ins Gesellschaftliche und Globale und lotet das Spannungsverhältnis von Freiheit und Abhängigkeit aus. Sein Stil variiert mit Mitteln der Groteske, Übertreibung und Travestie Segmente der Realität wie auch Kunstprodukte und -projektionen sowie deren mediale Abbildung. Er verfremdet sie zur Kenntlichkeit, reflektiert Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster, konstruiert Gegenmodelle, konterkariert Stereotype.
So versendet er ein vergnügt-ironisches, manchmal sarkastisches SOS im Angesicht des Wachstums einer herunterdemokratisierten Medien-Öffentlichkeit, der Konsum- und Unterhaltungsindustrie, sozialer Erschöpfungszustände und moralischer Krisen.
Dabei wendet er seine besondere Methode des Found-Footage an, das heißt, er verwertet Fremdmaterial, nicht bildlich, sondern auf der Tonspur: Dialoge, Texte, Sprachfetzen aus Filmen, Talkshows, youtube-Videos etc. geben den Sound vor – liegen Melhus auf der Zunge, kommen ihm über die Lippen. Collagiert zu einer Art Synchron-Fassung, bilden sie ihre eigene Poesie. »Ich verkörpere die Sprache wie ein parapsychologisches Medium.« Zwei weitere Meister dieser Kunstform, Matthias Müller (»Ich sammle Strandgut in meinem Wohnzimmer und zwar mit der TV-Fernbedienung«) und Christoph Girardet haben gemeinsam mit Melhus studiert, stehen im Austausch oder gelegentlich im Arbeitsverhältnis.
»Auto Center Drive« (wie vieles andere von ihm bereits auf dem Festival in Oberhausen zu sehen) ist gewissermaßen die Fortsetzung von »Weit weit weg« von 1995. Als Prolog ein explosives Ballett galoppierender, wiehernder Pferde, der »Flipper«-Boys aus der Fernsehserie, Vogelgezwitscher vor den Hochhaus-Fassaden von »Sasnak«, was sich – rückwärts gelesen – als Kansas enthüllt. Dies ist die Heimat von Dorothy aus »The Wizard of Oz«, dem Mädchen mit der grünen Schleife in der Zopf-Frisur (natürlich von Melhus verkörpert), das weit weg über den Regenbogen will, fort von den Fernsehantennen-Wäldern, und das wie Spielbergs »E.T.« am Telefon hängt, um mit ihrem Zwilling in Verbindung zu bleiben. In »Auto Center Drive« gibt es mit ihr ein trauriges Wiedersehen. Dorothy, die den Aufbruch gewagt hat, ohne dass der Zauber gewirkt hätte, taucht als Randexistenz, alkoholkrank und obdachlos, auf. Das Versprechen »there is no place like home« hat sich nicht erfüllt.
In »Freedom & Independence« fragt Melhus nach der Macht der Begriffe und zieht den Glauben in und an gods own country in Zweifel. Eine Glaubenssache, inszeniert als Gang zu den Göttern in einer Initiation wie in Mozarts »Zauberflöte« oder während anderer Logen-Rituale. In einer gotischen Kloster-Kulisse bläut ein weiblicher Religions-Ritter, Dark und Vip Lady mit dem Dollar-Zeichen als Abzeichen auf der Brust, »Vernunft, Individualismus und Kapitalismus« einer weißbräutlichen Pietà ein. Visuell gestaltet ist das als Wiederkehr des Mittealters in der Moderne, in die Welt der freien Märkte, der urbanen Waben und Silos, des Fitness, der Gated Communities, der Effizienz-Steigerung und Vergottung der Ökonomie. Eine böse Polit-Operette, in der fremdgesteuerte Körper und künstliche Lebewesen in grünen Kitteln aus der Pathologie ein morbides Ballett aufführen.
Meisterlich ist »I’m not the Enemy«. In winterlich adrette deutsche Vorstadt-Siedlungen, in denen gefährlich das Gemütliche nistet, und in eine Familien-Konstellation implantiert Melhus – teils aus Schlüsselloch-Perspektive, teils anders spukhaft – Dialoge aus einem Dutzend Hollywood-Produktionen wie »Coming Home«, die das Vietnam-Trauma und das Schicksal von Kriegsheimkehrern beschäftigt. Die Schlachtfelder der Veteranen lassen sich beliebig ausdehnen, von Irak und Syrien bis Afghanistan.
»Sudden Destruction« dauert nur vier Minuten und ist doch ein kompletter lupenreiner Horrorfilm, elegisch zunächst, gefolgt von einem Aufbäumen. Eine Austreibung böser Geister, als würde Melhus sich in Linda Blair aus William Friedkins Klassiker »Der Exorzist« verwandeln. In einem unpersönlichen Hotelzimmer steht ein Mann und schaut aufs Bett, unter dessen Laken sich ein zweiter Körper, den man für eine Leiche hätte halten können, bewegt, strampelt und mit fremder Zunge spricht – getextet nach apokalyptischen Visionen und dem Predigt-Jahrmarkt evangelikaler Propheten, dem Melhus auch in »The Oral Thing« in garstiger Form einer TV-Show auf den Zahn fühlt. Der Blick aus dem Hotelfenster geht nach draußen auf anonyme Straßen- und Häuserzüge, von denen Melhus okkupiert scheint. Er selbst wuchs auf in einer Großstadtsiedlung, die einmal als positives soziales Projekt entwickelt worden war. Urbane Räume beschäftigen ihn. Das Unheimliche eines bestimmten Hauses holt er zurück in »Das Badezimmer«, wo er mit der Stimme von Alfred Hitchcock den deutschen Trailer von »Psycho« nachstellt und aus Norman Bates’ Mutterhaus eine hiesige Gründerzeitvilla mit ebenso düsterem Treppenhaus macht und – kostümiert als Gärtner mit Elektrosäge – den Fremdenführer spielt, Bernard Herrmanns schreiende Musik inklusive. Die Dusche freilich ist durch eine Badewanne ersetzt. Bjørn Melhus macht sich und uns vertraut mit dem unheimlich Heimeligen.
Oberhausener Kurzfilmtage, 11. bis 16. Mai 2017.