Gefrühstückt hat er noch nicht. Es ist später Morgen, 10 Uhr, in seinem Büro in Herne stehen Croissants und türkischer Tee bereit. Aber er wird auch während unseres Gesprächs nichts essen. Dafür bleibt keine Zeit. Zekai Fenerci hat viel erlebt seit den Anfängen seiner urbanen Tanzkompanie Renegade. Und er hat viel zu erzählen.
Er war etwa 14 Jahre alt, unterwegs mit seiner Mutter in der Einkaufsstraße, als er zwei Jungs mit Ghettoblaster und weißen Handschuhen vor dem Kaufhaus sah. Sie tanzten auf der Straße. Der klare Takt der elektronischen Musik, deren Bewegungen – das habe ihn begeistert und nicht mehr losgelassen. »Ich will auch weiße Handschuhe«, habe er zu seiner Mutter gesagt. Er hat sie bekommen. So einfach sei das mit dem Tanzen dann allerdings doch nicht gewesen. Aber er ist drangeblieben. Hartnäckig und motiviert. Und er hat es sich beibehalten, dieses kämpferische Durchhaltevermögen.
Ein paar Jahre später: In den Jugendzentren in Wanne organisiert der 1972 als Sohn eines türkischen Bergarbeiters geborene Fenerci mittlerweile Breakdance-Wettbewerbe und Rap-Konzerte. »Ihr habt einen Saal. Lasst die jungen Leute doch tanzen», hatte er damals zu den Verantwortlichen gesagt. Und die jungen Menschen kamen nicht nur aus Wanne, »sie kamen von überall«. Alle wollten breakdancen. Aus den Treffen im Jugendzentrum formierte sich eine Gruppe. Bei Automessen sind sie aufgetreten, später beim Ruhrpott-Battle in den Herner Flottmann-Hallen. Das war in den 1990ern. Für ihre erste eigene Produktion brauchten sie noch einen Choreografen, für die Anmeldung beim Festival »Theaterzwang« noch einen Kompanie-Namen. Sie fanden Markus Michalowski und nannten sich »Renegade«. »Mir war der Name eigentlich völlig egal, aber ‚die Abtrünnigen‘, wie Renegade übersetzt heißt, fand ich gut», erinnert sich Fenerci. »Rumble« – Renegades Romeo und Julia-Adaption als Breakdance-Battle war damals ein Riesenhit, heimste etliche Preise ein. Das war 2003.
2007 gründeten Zekai Fenerci und sein Team den Verein Pottporus, ein Dach für die Kompanie, eine Anlaufstelle für Künstler*innen aus dem Bereich Urban Art, ein Ort der Vermittlungsarbeit. Urbane Kunst soll hier als eine der gesellschaftlich relevantesten Kunstformen der Gegenwart gefördert und produziert werden. »Wir sind keine Eintagsfliege«, stellt Fenerci klar. »Urban Art wird konsumiert. Unsere Leute sind international unterwegs.« Ehemalige Renegade-Tänzer*innen arbeiten heute mit Choreografie-Größen wie Sidi Larbi Cherkaoui, Constanza Macras oder William Forsythe. Und Fenerci sagt es noch deutlicher: »Kein Theater erreicht mit so wenig Geld wie es uns zur Verfügung steht so viele Menschen.«
Urban Art – dazu zählen Tanzkunst (wie Hip-Hop, Krump, Breaking), Musik (wie Rap, Beatbox) genauso wie Street Art und Graffiti. Für Fenerci ist sie gesellschaftlich wie kulturpolitisch von höchster Bedeutung: »Hip-Hop ist multikulturell, gegen Gewalt und Krieg, offen und respektvoll. Theater sterben aus. Aber Urban Art zieht auch die neuen Generationen mit.« Warum es für die Urbane Kunst im Ruhrgebiet immer noch kein eigenes Haus, keine Stätte für Produktionen, kein Ausbildungszentrum, kein festes Budget gibt, ist ihm völlig unverständlich. Er selbst bezeichnet sich als Visionär. Und an Ideen und an Überzeugung mangelt es ihm nicht. »Es muss doch Möglichkeiten geben für Urban Art-Künstler, in ihrem Bereich arbeiten zu können. Die studierten Tänzer gehen in die klassischen Kompanien. Wie toll wäre es, wenn sie sich hier in NRW auch für ein Urban-Art-Ensemble bewerben könnten.«
Fenerci und sein Pottporus-Team haben einige Versuche zur Etablierung unternommen. 2010 bis 2017 kooperierte Renegade mit dem Schauspielhaus Bochum. Sieben Spielzeiten, sieben Tanztheaterstücke, darunter das energiegeladen-virtuose »Irgendwo« unter der Choreografie von Malou Airaudo (2010) und die Rekonstruktion »Ruhr-Ort« von Susanne Linke (2014). Ihr Ziel war es, ein eigenes Ensemble zu gründen. Als Johan Simons die Intendanz übernahm, habe der darauf bestanden, alleiniger Chef zu sein. Und Pottporus ist aus dem Vertrag ausgestiegen. Fenerci will kein Auftragserfüller sein, sich nicht vereinnahmen lassen. Er will Pflöcke setzen für die urbane Tanzkunst. Eine eigene Sparte hatte er sich auch jetzt unter der neuen Leitung im Theater Oberhausen gewünscht. Hoffnung gab ihm das Programm Neue Künste Ruhr des Landes, das die Urbanen Künste separat fördert. Im nächsten Jahr verändert sich die Renegade-Kompanie strukturell, aus dem bisherigen Projekt-Ensemble wird ein festes. Drei neue Tanzstücke sollen produziert werden, eins feiert dann in Oberhausen Premiere.
Zekai Fenerci ackert weiter. Das Urban Arts Center Ruhr, das derzeit in einem leerstehenden Kaufhaus in Wanne-Eickel entsteht, ist für ihn ein wichtiges Modul, »das wir befürworten. Wir begleiten und unterstützen die Planungsgruppe mit unserem Wissen, mit unserer Erfahrung«. Geht es um die Frage nach der später noch zu besetzenden Leitung, sagt Fenerci, er würde gerne eine verantwortungsvolle Position übernehmen. »Dieser Ort wäre eine Zukunftsperspektive für alle Mitarbeitenden und für alle Künstler.«
Für die nahe Zukunft planen Fenerci und sein Team – neben dem nächsten Urban Art Festival und weiteren Produktionen mit dem jungen HipHop-Ensemble – mit Renegade wieder mehr nach draußen zu gehen, planen HipHop-Shows auf der Straße. Wenn der Urbane Tanz kein Haus bekommt, dann ist die Straße seine Bühne. Denn Urbane Kunst müsse sichtbar sein. Kultur dürfe es nicht nur in diesen Tempeln geben. »Von denen fühle ich mich selbst nicht angesprochen. Erst 2011 war ich das erste Mal im Bochumer Schauspielhaus. Warum sollten die Jugendlichen dorthin gehen?« Es klingt nicht arrogant, wenn Zekai Fenerci das sagt, sondern ehrlich.
Urban-Art-Route Hörde
Riesengroße Wandbilder, sogenannte Murals, gibt es in Dortmund-Hörde zu sehen. Pottporus führt das Projekt der Hörder »Brückengeschichten« von Hörde International e.V. weiter und hat international bekannte Urban Art-Künstler*innen eingeladen, Fassaden zu gestalten. Farbenstarke Graffiti springen einem von Kirchenwänden, Hausfassaden oder in der Aula und Turnhalle einer Gesamtschule entgegen. Die urbanen Künstler*innen aus Ländern wie Italien, Schweden, Israel, Kolumbien und Deutschland haben sich inspirieren lassen von Silvia Liebigs Soundcollage »Hörde, hier Hörde«. Die Urban-Art-Route Hörde ist ein urban begehbares Museum, ohne Öffnungszeiten und Eintritt und mindestens für die nächsten zehn Jahre zu besichtigen.www.brueckengeschichten.de
Urban Art Festival
Alle zwei Jahre präsentiert Pottporus das Urban Art Festival mit Tanztheaterproduktionen, Ausstellungen und Performances nationaler und internationaler Künstler*innen – das Spektrum reicht von HipHop und Breaking bis zum urban-zeitgenössischen Tanz, von Streetart bis zur digitalen Kunst. In der zweiten Jahreshälfte 2023 ist es wieder soweit, dann wird die Urban Art in Herne gefeiert.