Das 47. Jahr der Mülheimer Theatertage ist ein besonderes für das traditionsreiche Festival. Zum einen können die »Stücke 22« endlich wieder vor Publikum im Theater an der Ruhr stattfinden. Zuletzt hatte es aufgrund der Pandemie zwei digitale Jahrgänge gegeben. Zum anderen haben die Auswahljuroren, die sich für sieben Stücke für Erwachsene und fünf für Kinder entschieden haben, so viele Uraufführungen wie nie zuvor diskutiert. Mehr als 200 Stücke waren in der Auswahl. Auch das dürfte eine Folge des pandemischen Geschehens sein, vor allem der Theater-Lockdowns, die es mit sich gebracht hat.
Die zwölf nun nach Mülheim eingeladenen Produktionen zeugen allerdings nicht nur von der großen Vielzahl an Uraufführungen. Sie belegen auch, dass dieser »Stücke«-Jahrgang ein außergewöhnlich starker ist. Beispielhaft dafür kann Marie Bues am Nationaltheater Mannheim entstandene Uraufführung von Sivan Ben Yishais »Wounds Are Forever (Selbstportrait als Nationaldichterin)« stehen, die sich gegen Pınar Karabuluts Münchener Inszenierung von Yishais zweitem neuen Stück »Like Lover Do (Memoiren der Medusa)« durchgesetzt hat. Ein Jahr, in dem zwei derart grandiose Stücke einer Autorin herausgekommen sind, ist zweifellos außergewöhnlich.
Das sind auch die Erfolge, die Helgard Haug vom freien Theaterkollektiv Rimini Protokoll mit ihrem Text »All right. Good night.« feiert. Die von ihr selbst inszenierte und am HAU in Berlin herausgekommene Uraufführung wird auch beim Theatertreffen in Berlin und beim diesjährigen »Impulse«-Festival zu sehen sein. »Ein Stück über Verschwinden und Verlust« nennt Haug ihre neueste Arbeit im Untertitel. Tatsächlich erzählt sie nicht nur vom Verschwinden eines Flugzeugs, der Maschine MH370 der Malaysia Airlines, und eines Menschen, ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich in Folge einer Demenz mehr und mehr aufgelöst hat. Sie praktiziert das Verschwinden auch auf der Bühne. Es gibt praktisch kein Spiel. Haugs Text, der die beiden Erzählstränge ineinanderflechtet, erklingt gelegentlich vom Band. Meist wird er aber nur auf einen der Gazevorhänge projiziert. Aus dem Schauen wird so ein fortwährendes Mitlesen. Es ist, als ob das Theater angesichts der von Haug beschriebenen Verluste sich selbst verlieren muss.
Politisches Theater, das Spaß macht
Die Fragen und Themen, die Nora Abdel-Maksoud in ihrer von ihr selbst an den Münchner Kammerspielen ur-inszenierten Komödie »Jeeps« aufgreift, werden uns sicher noch lange beschäftigen. Ihre bitterbösen Kommentare zu den gegenwärtigen Diskussionen über Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit treffen ebenso ins Schwarze wie ihre sarkastischen Spitzen gegen den allgegenwärtigen Sozialneid und die bürokratischen Erniedrigungsmechanismen des Hartz-4-Systems. Dass Abdel-Maksoud auch vor wüsten Überzeichnungen nicht zurückschreckt, erweist sich dabei als enormer Gewinn. Denn mit »Jeeps« erbringt sie den Beweis, dass politisches Theater auch auf deutschen Bühnen ein großer Spaß sein kann.
Darauf setzt auch Karin Beier in ihrer vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg kommenden Uraufführung von Elfriede Jelineks »Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!«. Selten war ein zu den Mülheimer Theatertagen eingeladener Jelinek-Abend derart kurzweilig. Die Bühne ist Après-Ski-Hütte und Schlachthaus in einem. Hier sind die üblichen Ischgl-Verdächtigen, die Party People aus Russland und Deutschland, zu Eingeschlossenen geworden. Dabei geht einiges bewusst durcheinander, auch die Bezüge. Jelineks Text, der die erste und zweite Corona-Welle thematisiert, bleibt in seinen Anspielungen auf Corona-Leugner und Querdenker, auf Schlachthof-Arbeiter und Touristen offen. Und auch Karin Beier versucht gar nicht erst, Ordnung in dieses Chaos der Denkwelten und Bezüge zu bringen. Sie inszeniert den Text, indem sie ihn auf der Bühne ausstellt und den Rest dem Publikum überlässt.
7. bis 26. Mai