Manchmal dauert es lange. 1937 verschwand Leo Blech von der Liste der Leute, die als Ehrenmitglieder des Theaters Aachen geführt wurden. Er war Jude, Sohn eines Pinsel- und Bürstenfabrikanten. In seiner Heimatstadt hatte er seine ersten Schritte als Kapellmeister und Komponist gemacht. Und wurde berühmt. Richard Strauss empfahl ihn nach Berlin, Kaiser Wilhelm II. ernannte ihn zum Königlich Preußischen Generalmusikdirektor auf Lebenszeit. Wie begeistert viele Mächtige von Leo Blech waren, zeigt schon die Tatsache, dass er nach der Machtergreifung durch die Nazis weitere vier Jahre arbeiten durfte. Geschützt unter anderem von Hermann Göring. Dann war es vorbei, Leo Blech (1871-1958) emigrierte. Und verschwand aus den Programmen der Konzerthäuser.
Bis jetzt. Im vergangenen Jahr hätte Leo Blech seinen 150. Geburtstag gefeiert. Christopher Ward hat mit dem Sinfonieorchester nun eine seiner Opern auf CD eingespielt. Die hatte nun auch szenische Premiere. Doch zuvor gab es eine offizielle Feierstunde im Foyer des Theaters. Der Chor sang – Leo Blech war vor allem als Komponist für die Stimme bedeutend –, und dann wurde offiziell verkündet: Die Ehrenmitgliedschaft tritt wieder in Kraft.
Eine solche Wiedergutmachung ist natürlich nötig. Aber bedeutet sie auch eine künstlerische Neuentdeckung? Die Aachener Inszenierung gibt eine eindeutige Antwort: Leo Blech ist ein origineller Opernkomponist mit großem Theatergespür. Als Vorlage hat er sich Ferdinand Raimunds Zaubervolkstheaterstück »Der Alpenkönig und der Menschenfeind« ausgesucht. Eine einfache Geschichte: Der grummelig-griesgrämige Rappelkopf wird durch die Begegnung mit einem Geisterwesen geläutert und lernt, seine Familie wieder zu lieben. Kennt man in vielen Variationen, die bekannteste ist vielleicht Scrooge aus dem »Weihnachtsmärchen« von Charles Dickens.
Der Librettist Richard Batka hat das Stück aber klug gekürzt, viele Figuren herausgestrichen und operntauglich gemacht. Leo Blechs Kunst besteht nun darin, die Geschichte nicht in einem einzigen Stil zu erzählen. Wagners Idee eines Gesamtkunstwerks war ihm hörbar ziemlich schnuppe. Zwar sind auch Anklänge an Wagner zu hören, wenn sich die beiden Titelfiguren begegnen. Aber es zaubert und flirrt wie bei Richard Strauss, es rumpelt und pumpelt mit deftigen Volksmusikanklängen, und bei seinem Lehrmeister Engelbert Humperdinck hat Leo Blech einen herrlich ätherischen Chor fürs Finale des zweiten Aktes geklaut.
Also ein Komponist für den Tagesgebrauch? Nein, mehr als das. Die Volksmusik ist nicht bloß ein Zitat, Leo Blech treibt sie satirisch auf die Spitze, schneidet den Sänger*innen manchmal mitten in der Melodie das Wort ab. Das ist ein musikalischer Humor, der auch heute bestens funktioniert. Und den Christopher Ward mit den Aachener Sinfonikern bestens bedient. Wie er auch die anderen Stile kompetent und gefühlvoll in die Handlung einbindet.
Für die Regie ist dieses Stück eine Herausforderung. In Volkstheaterkitsch könnte es versinken, ohne Zauber und Idylle würde aber auch viel fehlen. Ute M. Engelhardt findet genau den richtigen Weg dazwischen. Am Anfang zu einem knuffelsüßen Duett, in dem die Sopranistinnen Netta Or und Anne-Aurore Cochet hinreißend tirilieren, wiegen sich die Pflanzen auf der Wiese im Takt. Der Sessel, von dem aus der bei aller Wucht feinsinnige Bariton Paul Armin Edelmann seine Familie tyrannisiert, erinnert ein bisschen an den eisernen Thron aus »Game of Thrones«, nur mit Pferdeköpfen. Und wenn sich Rappelkopf und der Alpenkönig begegnen, bleibt die Spielfläche weitgehend leer. Hier konzentriert sich alles auf das Spiel und die Musik. Ronan Collett ist als Erscheinung aus der Geisterwelt eine Wucht.
Knackig erzählt
Es gibt noch einige weitere Opern von Leo Blech. Nicht alle sind erhalten. Denn er war schon zu Lebzeiten als Dirigent weitaus berühmter und hat sich anscheinend auch selbst nicht sehr um den Erhalt seiner Werke gekümmert. »Alpenkönig und Menschenfeind« ist auf jeden Fall ein Stück, das in den Spielplan vieler mittlerer und größerer Opernhäuser gut passt. Den einen Choreinsatz kann man vorher aufnehmen – wie in Aachen –, Orchesterbesetzung und Ensemble entsprechen den üblichen Anforderungen. Und mit zweieinhalb Stunden ist das vielseitige Stück knackig erzählt, ohne einen Anflug von Langeweile.
Die Aachener Ausgrabung passt übrigens perfekt zu einer verdienstvollen Reihe der Oper Bonn. Hier werden seit einigen Jahren Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auf die Bühne gebracht, die nach ihrer Verbannung durch die Nationalsozialisten keine Chance mehr bekamen. Weil in der Nachkriegszeit sinnliche Erzählopern nicht mehr gefragt waren und als gestrig galten. Das hat sich nun geändert. Die Zeiten der schrägen Schockavantgarde sind lange vorbei. Die Opernhäuser wollen über die bekannten Stücke hinaus originelle Werke zeigen, die das Potenzial haben, ein größeres Publikum zu erreichen. Eben das ist dem Theater Aachen mit »Alpenkönig und Menschenfeind« gelungen. Vielleicht wird Leo Blech ja eines Tages durch seine Werke sogar wieder ein aktives reaktiviertes Ehrenmitglied.
14. und 22. Oktober, 12. und 27. November, 4. Dezember