Die Digitalisierung der Bühnenkunst hat durch die Pandemie einen starken Schub bekommen. Künstler*innen entwickeln immer neue Ideen und Formate. »D³ – Dance Discovers Digital« heißt ein Format am Theater Bielefeld, das Tanzchef Simone Sandroni und Dramaturgin Janett Metzger bereits für drei Gastchoreografen entwickelten. Nun ist die niederländische Choreografin Nanine Linning an der Reihe mit ihrer Performance »Anima Obscura«. Für die Videoszenografie holte sie sich Claudia Rohrmoser, Künstlerin und Professorin an der Fachhochschule Bielefeld für den neuen Studiengang Digital Media and Experiment. Ein Gespräch über Theater in der vierten und fünften Dimension.
kultur.west: Frau Linning, worum geht es in »Anima Obscura«?
LINNING: Es geht um den Wunsch des Menschen, unsterblich zu werden. Wir sind getrieben von der Suche nach Wegen, wie wir gesünder leben können, uns schneller regenerieren und länger jung bleiben. Die rasanten Fortschritte, die in den letzten Jahren im Cloning, Bio-Hacking, in der DNA-Optimierung und Kryologie gemacht wurden, verdeutlichen das. Wir wollen etwas von uns erschaffen, das bleibt, auch wenn unsere Körper nicht mehr da sind. Gleichzeitig ist es uns ein Bedürfnis, die Erinnerung an das Vergangene, an diejenigen, die verstorben sind, wachzuhalten – durch Rituale, durch Bilder, durch das geschriebene Wort. Die Produktion befasst sich mit dem Kreislauf von Geburt, Verfall, Tod und Fragen des Nachlebens. Dabei gucke ich nicht nur ins Heute und in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit. Denn bereits im Mittelalter suchten die Alchimisten nach einem Jungbrunnen, um ewiges Leben zu erlangen. Das tun wir heute immer noch. Inzwischen können wir zwar ein Herz als Organ in 3D drucken, aber noch nicht erfassen, was die Anthroposophen als Seele bezeichnen. Deshalb verweist der Titel auf »die dunkle Seele«. Wir haben unsere eigene Innenwelt bis heute nicht ganz begriffen.
kultur.west: Wieso sind digitale Technologien besonders dafür geeignet, das Thema umzusetzen?
LINNING: In der digitalen Welt kann man gut träumen. Sie gibt uns einen Einblick in mögliche Perspektiven. Alles, was wir analog sind oder tun, kann man digital weiterdenken. Dieser Kosmos gibt uns die Möglichkeit im Leben und auf der Bühne, etwas zu realisieren, was eigentlich nicht realisierbar ist. Das Spannende ist die Mischung. Denn ich bin nicht interessiert an einem rein digitalen Produkt. Oder an einem Stream. Ich finde Hybride interessant – die Performance ist extrem hybrid. Es ist eine schöne Vermischung aus Bühnenkunst und Digitalisierung. So gibt es eine Szene, in der wir einen Tänzer von oben filmen, der sich auf der Bühne am Boden nach vorne schlängelt und eine Spur am Boden hinterlässt. Diese Aufnahme projizieren wir später an die Rückwand, während er diese Sequenz in Echtzeit tanzt. So entsteht der Effekt, als würde der Tänzer schweben. Auch musikalisch morphen wir: Es gibt ein Wechselspiel zwischen Johannes Brahms‘ »Ein Deutsches Requiem« und dessen zeitgenössischer Rekomposition »Ein Schemen« von Yannis Kyriakides. Der Zeitpunkt für eine solche Arbeit ist natürlich ideal, da die Welt eine gewaltige Welle der Digitalisierung erlebt. Ich denke, dass wir in fünf Jahren Theater ganz anders machen werden. Natürlich wird es immer noch Sänger, Schauspieler, Tänzer, Orchester, Chöre geben. Aber es wird noch eine vierte oder fünfte Dimension hinzu kommen.
kultur.west: Sie arbeiten schon lange multidisziplinär – Tanz, Design, Video, Mode, Bildende Kunst. Inwiefern hat die Pandemie Ihrer Produktionsweise einen digitalen Push verliehen?
LINNING: Das Projekt war lange vor Corona geplant, auch genau in dieser Form. Was die Pandemie allerdings bewirkt hat, ist, dass ich mein künstlerisches Team lange nicht zu sehen bekam. Wir mussten alles via Zoom besprechen. Es sind Künstler aus Russland, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, den USA und der Karibik.
kultur.west: Haben sich Ihre Wahrnehmung und Ihr Körpergefühl durch die körperferne Arbeit verändert?
LINNING: Ja, ich habe es sehr vermisst, mit anderen in einem Raum zu arbeiten und körperlich zu kommunizieren. Wenn ich mit anderen Menschen interagiere, ist mein ganzer Körper aktiv. Jetzt bin ich nur noch ein Kopf! Durch die Arbeit via Zoom geht sehr viel Information verloren. Schon während des ersten Lockdowns hatte ich ein starkes Verlangen, Menschen zu berühren. Die Intimität, die man in einem Theater teilt, hat mir als Choreografin sehr gefehlt.
D3 – Dance Discovers Digital / Chapter II; Anima Obscura
Premiere am 23. Oktober, Stadttheater Bielefeld, www.theater-bielefeld.de