Katha ist 14 Jahre alt, als sich ihre Eltern trennen und sie 2003 mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester nach Dortmund zieht. Dass sie die Ehe nicht retten konnte und die Schwester gegen die neue Situation revoltiert, betrübt Katha, die selbsternannte »Lebenshandwerkerin«. »People-Pleaser« würde man eine wie sie heute wohl nennen: Immer bemüht, es allen recht zu machen. Mit ihrer Art findet Katha schnell Anschluss in ihrer neuen Klasse in Dortmund-Hombruch. Sie wird Teil einer »Damenbande«: Die Anführerin heißt Sofie, Kati hat hübsche Locken, Jessi gibt sich betont locker.
Scherzant erzählt die Teenagerzeit nicht nur, sie fühlt sich vollends ein, erinnert sich sensibel an Sorgen – zwischen Gilette-Werbung und Male-Gaze. Unter den Mädchen in der Bande herrschen typische Teenager-Dynamiken: Geister werden beschworen, heimlich Zigaretten hinter der Sporthalle geraucht und Klassenlehrerinnen mit Coolness ignoriert. Doch natürlich ist all das nur Fassade. Das weiß auch die erwachsene Katha, die ihre Geschichte retrospektiv erzählt. Denn Katha versteht heute, dass die Jungs nicht unbeholfen, sondern übergriffig gehandelt haben und ihr die eigene zurückhaltende Rolle vom Patriarchat aufgezwungen wurde. Sie weiß, dass die Haarstoppeln in der Bikinizone kein Grund für schambehaftete Freibadbesuche sein sollten. Und dass sie nicht schuld daran war, dass ihr Schwarm sie rabiat mit dem Finger penetriert hat.
Feministischer Unterton
Dieser feministische Unterton schwingt immer mit, ohne aber je zu überborden. In der Geschichte findet er vor allem in der Figur Angelica seine literarische Gestalt: »Lica« ist Sofies Mutter und lebt das Leben einer unabhängigen lesbischen Frau in einer Art Petterson-und-Findus-Oase inmitten des Dortmunder Betongraus. Seit ihrer ersten Begegnung ist Katha vernarrt in Lica, ihre honigblonden Haare, den roten Lippenstift und ihre klugen Ratschläge. Sie wird ein Mutterersatz und bringt ihr beim Kirschkuchenbacken bei, für sich selbst einzustehen. Als Lica schließlich eine tragische Diagnose erhält, erschüttert Kathas Leben ein emotionales Erdbeben, das sich kaum in Worte fassen lässt.
Stilistisch reagiert Scherzant auf die konfuse Innenwelt der Protagonistin mit einer formal klaren Abgrenzung: Um von Verlust und Trauer zu erzählen, wird die Schreibweise assoziativ und anekdotisch. Gedankenfetzen oszillieren zwischen Traum und Realität und sind mit Titeln wie »Blutende Kirschen« und »Schnittkäse« überschrieben. Diese Miniaturen sind nicht nur ein origineller Einfall, um von Teenager-Trauer zu erzählen, die Autorin stellt in ihnen auch ihr poetisches Talent unter Beweis. Am Ende erzählt Scherzant von der erwachsenen Katha, die als Ärztin in Berlin lebt.
Neben der reflektierenden Grundhaltung ist dieser Roman vor allem wahnsinnig amüsant. Kein Wunder, schließlich steckt die Autorin mit ihrem Kollegen Marius Notter hinter dem erfolgreichen Comedy-Account »alman_memes2.0«. Besonders viel Freude dürften Millennials an den popkulturellen Referenzen finden: Da sitzt ein Hamster namens Zlatko vor einem Bro’Sis Plakat, und verschwindend dünne Augenbrauen blitzen auf überbelichteten Fotos durch. Für all diese Erinnerung ist Dortmund nicht nur neutraler Handlungsort, sondern atmosphärische Kulisse, die den ehrlichen Humor des Romans mitträgt: Wer nicht aus dem Revier kommt, findet den Phrasendrescher im BVB-Trikot am Kiosk vielleicht überzeichnet. Alle anderen haben genau diesen Typen in ihrem Leben schon etliche Male getroffen.
Sina Scherzant: »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne«
erschienen bei park x ullstein, Berlin 2023 (368 Seiten, 23 Euro)