Fünf Jahre ist es her, dass der 19-jährige Jirka den Gutshof seiner Eltern im »Krummen Holz« in Westfalen besucht hat. Schmerz und Angst blockieren ihn. Als er sich an einem drückend heißen Sommertag dennoch auf den Weg macht, beginnt für ihn eine Konfrontation mit seiner Vergangenheit. Schnell ist klar: Damals sind Dinge geschehen, die der junge Mann lange verdrängt hat.
Jirkas Rückkehr an den Ort seiner Kindheit und Jugend bildet den Auftakt von Julja Linhofs Debütroman. Am Tag seines Aufbruchs breitet sich »eine Landschaft wie unruhige See« vor ihm aus. Und »auf dem Höhenzug über der Ortschaft liegen die Höfe aufgefädelt wie in einer Perlenkette.« Doch der Hof seiner Eltern hat die besten Jahre längst hinter sich: »Alles ist noch genauso alt wie damals«, heißt es an einer Stelle im Buch. Im Haus riecht es nach nassen Schuhen, Essensreste gammeln im Kühlschrank vor sich hin, der Lack platzt von den Fensterrahmen.
Niemand hat auf Jirka gewartet, niemand heißt ihn freudig willkommen. Im Gegenteil: Seine Mutter ist tot. Sein Vater lässt sich gar nicht erst blicken. Seine Schwester Malene reagiert abweisend. Seine demente Großmutter scheint ihn nicht zu erkennen. Leander, der Sohn des Verwalters, spricht zwar mit ihm. Aber auch mit ihm verbindet Jirka widersprüchliche Gefühle.
Julja Linhofs dichte, sinnliche Sprache zieht einen als Leser*in von der ersten Seite an in die Geschichte hinein. Jirkas Unbehagen ist in fast jedem Satz spürbar. Wir folgen ihm auf seinen Wegen durch Haus und Landschaft, riechen mit ihm das Korn auf den Feldern und die bedrohliche Schwere der heißen Sommertage: »Rechts die langen Grannen der Gerste. Links grauer Roggen. Und darüber der klare Sommerhimmel. Keine Wolkenschlieren. Nur die Stromleitungen, die zwischen den Holzmasten das Blau in Streifen schneiden.«
Erinnerungsfetzen unterbrechen Jirkas Beobachtungen – und die haben mit einer idyllischen Kindheit auf dem Bauernhof nur wenig zu tun. Was genau passiert ist, wird an vielen Stellen nur angedeutet. Wie ein Puzzle fügt sich die Handlung des Romans nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen, das von brutaler Gewalt und ungestillter Sehnsucht bestimmt ist.
Doch in all der Schwere – die sich zu einem sehr dramatischen Ende zuspitzt – blitzt immer wieder die Leichtigkeit auf. Jirka findet Möglichkeiten, seine Erlebnisse zu verarbeiten. Er zeichnet, hilft Leander beim Bewässern des Gartens, sucht zaghaft die Nähe seiner Schwester.
Das literarische Thema »Rückkehr an den Ort der Kindheit« ist sicher nicht neu. Aber Julja Linhoff, die selbst in Westfalen aufgewachsen ist, gibt dem Bekannten durch ihren kraftvollen Schreibstil eine große Wucht. »Krummes Holz« ist kein leichtes Sommerbuch, sondern eine traurige Geschichte über die Traumata einer Kindheit – und die Wege, die vielleicht hinausführen können.
Julja Linhof: »Krummes Holz«, Klett Cotta, 272 Seiten, 22 Euro
Lesung: 12. Juni, Haus Welschenbeck, Warstein