Der zweite Roman von Sina Scherzant erzählt nachdenklich und lebensklug von einer jungen Frau, die aus ihrem Dorf verschwindet. Und fortan von einer bunt zusammengewürfelten Truppe gesucht wird.
Sie tun es bei Nieselregen, Schnee oder Sonnenschein. Sie sind zu siebt, selten weniger. Sie studieren oder sind längst in Rente, arbeiten als Rettungssanitäter oder Stadtführerin, tragen am liebsten Funktionskleidung und durchpflügen gemeinsam den Wald. Seit Monaten schon. Ihrem Ziel wirklich näher kommen die Menschen in Sina Scherzants neuem Roman eher nicht – dabei aber ein Stück weit sich selbst. Denn in »Taumeln« geht es nicht nur um eine junge, schöne Frau, die vor zwei Jahren aus ihrem kleinen Dorf verschwand und seitdem von jener kleinen Gemeinschaft gesucht wird. Sondern um Einsamkeit und Trauer, Zusammenhalt und Emanzipation.
Denn schnell wird klar, dass jedes der Mitglieder der kleinen Suchttruppe aus unterschiedlichen Gründen sucht: Da wäre zum Beispiel Inge, die forsch durch den Wald führt, hier vermeintlich interessante Spuren für die Polizei aufliest und dort eine neue Wegstrecke bestimmt. Vielen erscheint die Frau mittleren Alters als äußerst zielstrebig – denn niemand ahnt von der Hölle, die sie nach ihrer Rückkehr zuhause erwartet. Oder der etwas ungepflegt wirkende Hartmut, der sich mit zu vielen Dingen umgibt, weil er das Leben ohne seine Frau kaum ertragen kann. Dazu Frank, der kaum Freunde geschweige denn eine Partnerin hat und sich für seine Einsamkeit schämt: »Wenn die Leute doch die Wahrheit über ihn wüssten, das wäre doch peinlich, furchtbar peinlich.«
Schon in ihrem Debüt »Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne« hatte sich Sina Scherzant mit Menschen beschäftigt, die verzweifelt ihren Platz in der Welt suchen. Im Fokus ihrer zweiten Geschichte steht nun Luisa, die mit der kleinen Truppe ihre Schwester sucht und ihr Leben seit der Vermisstenmeldung scheinbar eingefroren hat. Luisa ist nicht nur aus der größeren Unistadt in die provinzielle Starre ihres Dorfes zurückgekehrt, sondern auch noch in ihr Jugendzimmer. Sie hat Seminare, Freundschaften und Chancen zurückgelassen. Und legt nun offen, wie komplex, wie kompliziert es bisweilen sein kann, mit den alternden Eltern um Hannah zu trauern. Vor allem, wenn unklar bleibt, wohin sie eigentlich verschwunden ist.
»Trauer ist eines der größten Gefühle, das man haben kann. In so einer Lage fühlt es sich oft an, als ob jemand ein Loch in einen hineingestanzt hätte«, so hat es Sina Scherzant einmal in einem Interview beschrieben. Wunderbar unaufgeregt, regelrecht lakonisch lässt sie Luisa aus ihrem ereignislosen Alltag im Dorf erzählen. Scherzant zeigt eine Spurensuche zu Familienmustern und in die Kindheit zwei grundverschiedener Schwestern, von der die eine in die Stadt zum studieren ging, während die andere lieber in der Sicherheit, in der vermeintlichen Enge des Dorfes verharrte. »Die ganze Welt stand ihr offen. Doch sie wollte nichts davon. Die riesige Welt machte ihr eher Angst, als dass sie sie einlud. Kopfzerbrechen, wo ist jemand, der überall sein kann, aber nirgends hingehen mochte?«
Sina Scherzant selbst ist 1991 in Menden geboren, aber im Ruhrgebiet aufgewachsen. Und sie dürfte mit Dorfklischees sehr vertraut sein: Auf ihrem gehypten Instagram-Account »alman_memes2.0« zelebriert sie mit Marius Notter äußerst erfolgreich typisch deutsche Klischees – von gesellschaftlicher Enge bis zu den Abgründen kleinbürgerlichen Spießertums. Vor diesem Hintergrund kommt »Taumeln« zum Glück nicht ohne Selbstironie, aber ohne Zynismus aus: Ihr Buch ist schnörkellos, aber gerade durch seine Direktheit so anrührend.
Sina Scherzant: »Taumeln«, park x ullstein, 320 Seiten, 23 Euro