In Anne Gesthuysens Roman »Vielleicht hat das Leben Besseres vor« gerät ein Dorf am Niederrhein in Aufruhr: Ein Mädchen liegt im Koma und die Gerüchteküche brodelt. Pastorin Anna von Betteray begibt sich auf Spurensuche. Ein Softkrimi zwischen Bierzeltgarnitur und Dorfklischee.
Familie von Betteray hat ihren Ruf weg in der kleinen niederrheinischen Gemeinde Alpen. Während Mutter Mechthild alles daran setzt, die adelige Fassade zu erhalten, ertränkt ihre Tochter Maria den Frust über die Inhaftierung ihres Mannes in Alkohol. Einzig Schwester Anna bewahrt einen kühlen Kopf: Sie ist die bodenständige Betteray, klug und lässig, kümmert sie sich nicht nur um die Familienangelegenheiten, sondern auch um die der ganzen Gemeinde. Als Pastorin hat sie für jeden ein offenes Ohr. So auch für ihre Schulfreundin Heike Müller, deren Tochter Raffaela mit schweren Verletzungen im Krankenhaus liegt.
Zum zweiten Mal muss ihre Mutter um ihr Leben bangen. Denn Raffaela wurde bewusstlos in einer Grube gefunden – vom Täter fehlt jede Spur. Anne Gesthuysen bewegt sich in ihrem Roman ab hier auf zwei Zeitebenen: Zum einen begleiten wir Anna im Alltag zwischen Spargelfest und Chorproben, der mehr und mehr von dem Fall um Raffaela eingenommen wird. Zum anderen erzählen Retrospektiven die Geschichte von Heike und Raffaela. Wie sie als Kleinkind mit einem beladenen Einkaufswagen umfiel und seither eine Behinderung hat. Wie die Mutter sich für ihr Kind aufopfert, das von der Welt oft überreizt ist und mit Wut reagiert. Von Raffaelas Bruder Johannes, der sie vor allem beschützt und trotzdem manchmal nicht ertragen kann. Von einer Ehe, die an all dem scheitert. Es sind diese Kapitel, die berühren. Kaum auszumalen, wie es dieser Mutter gehen muss, gelingt es Gesthuysen mit Feinsinn von dem schweren Schicksal zu erzählen. Von der Brutalität eines bisweilen unverstandenen Kindes und der bedingungslosen Liebe ihrer Mutter. Und auch der Erzählstrang um Anna spannt einen dramaturgischen Bogen, der fesselt: Wer könnte an dem erneuten tragischen Zustand des Mädchens schuldig sein?
Doch leider kommt der Roman nicht ohne klischeehafte Figuren aus. Da wäre Annas bester Freund, »Martinchen«, Postbote und schwul. Allein der Deminutiv seines Namens entbehrt der Figur jeder Ernsthaftigkeit. Er trägt seinen Hund Gloria wie Mooshammer auf dem Arm, ist stets „der sensibelste in der Runde« und fängt schnell an zu weinen. Die Lebendigkeit der Figuren evoziert Gesthuysen vor allem über Stereotype (die rüstige 90-jährige Tante Ottilie, frech und forsch, die eitle Mechthild von Betteray, kalt und erhaben). Besonders irritieren kontextlose Szenen, in denen eine junge Frau aus der Stadt bei einer Chorprobe sexistische und rassistische Liedtexte alter Schlager anprangert. Auch hier fehlt es an Ambivalenz: Diese linke, stoische Frau lässt nicht mit sich reden und wird auch von Anna eher gefoppt als ernstgenommen. Eine solch oberflächliche politische Ebene hätte der Roman nicht gebraucht, zumal sie völlig aus der Handlung fällt. „Vielleicht hat das Leben Besseres vor« ist ein vermeintlicher Schmöker, der durch den Fall Raffaela seine Tiefe bekommt, sich jedoch mit heimeligem Ton betulich anschmiegt. Es würde nicht wundern, wenn nach »Wir sind doch Schwestern« auch Gesthuysens neuester Roman verfilmt wird – die passenden Fernsehbilder laufen beim Lesen jedenfalls bereits im Kopfkino.

Anne Gesthuysen: Vielleicht hat das Leben besseres vor, Kiepenheuer & Witsch, 400 Seiten, 24 Seiten
Termine:
4. Februar, Aula Rivius-Gymnasium (Attendorn)
5. Februar, Theater am Ziegelbrand (Menden)
23. März, WDR Funkhaus Köln (Lit.Cologne)
30. März, Stadtbücherei (Hagen)
4. April, Bürgerhaus (Rees)