Ingo Grabowsky ist »Dr. Schlager« – ein Experte für Unterhaltungsmusik. Dabei leitet der promovierte Slawist im Hauptberuf das Kloster Dalheim, LWL-Landesmuseum für Klosterkultur. Inmitten der einst geweihten Mauern singt und analysiert er kitschige Kassenschlager oder groteske Gassenhauer auch schonmal selbst. Ein Gespräch über Musik, die glücklich macht, singende Nonnen und geistreichen Quatsch.
kultur.west: Herr Grabowsky, zum Einstieg mal ganz konkret gefragt: Was sind Ihre Lieblingsschlager zum Thema Glück?
GRABOWSKY: Puh… Das kommt sehr auf die eigene Tagesverfassung an. In »Ich weiß, was ich will« singt Udo Jürgens von der Liebe und dem Glück des Augenblicks: »An einem leeren Strand allein mit dir sein und alles tun, was man so tun kann zu zwei‘n« – diese Zeile, eigentlich fast den ganzen Schlager, können viele unterschreiben. Dann »Atemlos« von Helene Fischer: Darin feiert sie das Glück des Liebesrauschs. Alles passt perfekt zusammen, der Text, die Musik, ihre Persönlichkeit. Und neulich tauchte Bully Buhlans »Ich hab‘ mich so an dich gewöhnt« wieder in meiner Playlist auf. Der Schlager kommt ganz still daher und besingt so treffend das Alltagsglück.
kultur.west: Schlager und Glück – das gehört schon zusammen, oder?
GRABOWSKY: Ja – aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Es geht im Schlager, gerade in den 70er Jahren, auch mal um Drogentote, oder wie in »Ein ehrenwertes Haus« um ein Paar, das in wilder Ehe lebt und aus dem Haus gemobbt wird. Es gibt traurige und melancholische Schlager. Aber im Prinzip dominiert die Sehnsucht nach der heilen Welt. Schlager sind Maschinen, in denen man für drei Minuten in eine bessere Welt reisen kann. Für viele Menschen sind sie Überlebensmittel, die für einige Minuten Kraft geben oder einen Ausbruch ermöglichen.
kultur.west: Was zeichnet den Schlager als Genre eigentlich aus?
GRABOWSKY: Eigentlich ist der Schlager gar kein Genre, sondern einfach Musik, die »eingeschlagen« hat, oder einschlagen soll – im Englischen heißt es etymologisch ähnlich: ein Hit! Der erste so bezeichnete Schlager war 1867 der Donau-Walzer von Johann Strauß. Die nächsten Jahrzehnte nannte man auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete und erfolgreiche Lieder »Schlager«, auch solche von Elvis Presley oder den Rolling Stones.
kultur.west: Wie kam der Schlager zu seinem heute so schlechten Ruf?
GRABOWSKY: Für Theodor Adorno und andere Intellektuelle waren Schlager in den 1960er Jahren ein fast schon gefährliches Produkt der Massen- und Wegwerfkultur und der Verdummung. Die revoltierende Jugend brachte sie mit der Unterhaltungsmusik ihrer Eltern, mit Massenkultur und dem Nationalsozialismus in Verbindung. Schlager als deutschtümelnde Heile-Welt-Lieder – diese Zuschreibung ist heute noch in vielen Köpfen vorhanden. Man denkt bei Schlagern nicht mehr an die Comedian Harmonists oder an Caterina Valente, die mehrere Oktaven scheinbar mühelos hoch und runter wandern konnte. Wir denken an »Die Flippers« und an Florian Silbereisen. Aber was natürlich stimmt: Zur sozialen Veränderung rufen Schlager eher nicht auf.
kultur.west: Moment mal – Sie selbst haben in einem Forschungsprojekt nachgewiesen, dass der sowjetische Schlager im Kalten Krieg durchaus ein revolutionäres Moment hatte …
GRABOWSKY: Das stimmt. Im Osten feierte man die so genannte E-Kultur und höchstens noch das Volkslied. Dem amerikanischen Schlager setzte die Sowjetunion die »Diktatur der Baritone« entgegen, die Lieder mit dem Gestus des klassischen Sängers vortrugen. Auch in der DDR hatten Schlager eine bedrohliche Kraft, weil darin andere gesellschaftliche Beziehungen besungen wurden als man sie wollte. Bill Ramseys »Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe« galt als Verherrlichung von Prostitution. Die DDR organisierte sogar eine wissenschaftliche Tagung über den westlichen Schlager, der angeblich die verkommene kapitalistische Welt feiert – dabei war der Schlagertext eigentlich reiner Quatsch.
kultur.west: Apropos Quatsch: Wie hat sich der Schlager seitdem entwickelt? Ist er heute harmloser als früher?
GRABOWSKY: Den heutigen Schlager finde ich meist uninteressant. Viele klingen wie von der künstlichen Intelligenz geschrieben, es sind billige Abziehbilder. Ein Extrem ist der Ballermann-Schlager – Lieder, die in den 1980er Jahren auf dem Index gestanden hätten, so eindeutig eindeutig sind sie. Mit meinem Konzept von Glück hat das nichts zu tun. Der schlüpfrige Schlager der 50er, 60er Jahre spielt dagegen mit Zweideutigkeiten, die man mit gutem Willen auch anders verstehen könnte.
kultur.west: Dazu haben Sie mit Ihrer Band ein eigenes Bühnenprogramm gemacht, »Das Erotik-Lexikon des deutschen Schlagers« …
GRABOWSKY: Der Untertitel lautet »Heulende Eunuchen und kleine Löterinnen«. Wir erzählen von der reichen, knisternden Schlager-Tradition seit den 1920er Jahren, leidenschaftlichen Liedern und schamlosen Chansons.
kultur.west: Offenbar macht schon die Beschäftigung mit Schlagern glücklich …
GRABOWSKY: Unbedingt! Ich habe dazu geforscht, publiziert, Ausstellungen kuratiert. Im Moment stehe ich mit der Marilyn Boadu Band eher auf der Produktionsseite, wir haben verschiedene Programme zur Erotik oder zum Fernweh im Schlager. In den 50ern gab es in den Schlagern ja massenhaft deutsche Touristen, die in Italien erotische Abenteuer erleben, sei es am Strand oder in einer Gondel auf den Kanälen von Venedig. Im Grunde sind unsere Programme Liederabende, garniert mit Zitaten und Anekdoten aus der Schlagergeschichte. Dafür gehe ich durchaus wissenschaftlich vor, indem ich Thesen formuliere und die belege. Und ich mache dabei immer wieder Entdeckungen oder erfahre in der Auseinandersetzung überraschende Neudeutungen.
kultur.west: Zum Beispiel?
GRABOWSKY: Das Liebeslied »Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen« von Zarah Leander stammt ja aus einem Durchhalte-Kriegsfilm, wurde aber angeblich von Bruno Balz in Gestapo-Haft geschrieben. Belegbar ist auf jeden Fall, dass er als homosexueller Musiker verfolgt wurde. Und vermutlich wurde er nur vor Schlimmerem verschont, weil er »kriegswichtige« Schlager schrieb. Geschichten wie diese machen es für mich so interessant, sich mit dem Schlager auseinanderzusetzen.
kultur.west: Wie groß ist Ihre Plattensammlung?
GRABOWSKY: Ich habe ein paar hundert Schallplatten und muss häufig gut gemeinte Schenkungen abwehren. Ein paar Schätze fehlen mir aber noch. Zum Beispiel eine Single, die zeitweise mit einem Vorhängeschloss als Jugendschutz verkauft wurde: »Aber der Novak lässt mich nicht verkommen«. Darin wird das nicht allzu problematisierte Schicksal einer Prostituierten besungen.
kultur.west: Verfolgen Sie als »Doktor Schlager« eine Mission?
GRABOWSKY: Ein wenig schon – ich möchte den alten Liedern eine Bühne geben und den Schlager jenseits von Ballermann und Florian Silbereisen vorstellen.
kultur.west: Schlager und Klosterkultur – hat das wirklich gar nichts miteinander zu tun, oder?
GRABOWSKY: Doch! Beides sind Phänomene der Alltagskultur. Die Klosterkultur hat den Alltag der Menschen in Europa über Jahrhunderte geprägt, so wie es Schlager seit nun über einem Jahrhundert tun. Darüber hinaus gab es in den 70er Jahren viele Pater und Nonnen, die mit ihrer Gitarre religiöse Botschaften unters Volk brachten. Eine belgische Nonne war mit dem religiösen Schlager »Dominique« Anfang der 60er Jahre weltweit in den Hitparaden. Und noch vor einigen Jahren gewann eine Nonne bei »Italien sucht den Superstar«.
kultur.west: Das schreit doch nach einer Ausstellung im Kloster Dalheim!
GRABOWSKY: Ja… nein. So viele waren es vielleicht dann doch nicht.
Zur Person
Der gebürtige Dortmunder Ingo Grabowsky ist promovierter Slavist und leitet das LWL-Landesmuseum für Klosterkultur Dalheim. Für das Bonner Haus der Geschichte kuratierte er mehrere Ausstellungen über populäre Musik und ist unter anderem Autor des Bandes »Die 100 Schlager des Jahrhunderts« (erschienen in der Europäischen Verlagsanstalt, 320 Seiten, 19,90 Euro).
Als Dr. Schlager ist er live mit dem Marilyn Boadu Trio im Museum Peter August Böckstiegel in Werther am 23. November zu erleben. Geplant ist unter dem Titel »Mit dem Gummiboot nach Amarillo. Eine Hitparade der deutschen Fernwehschlager« eine Lesung mit Musik.
Anmeldung per Mail an buchung@museumpab.de