Es ist noch hell draußen, da rattern in der Pop Bar die Jalousien runter. Stefan Reichmann dreht sich eine Zigarette und seufzt. Wenn es nach ihm ginge, müssten seine Gäste um 21 Uhr nicht im Halbdunkel stehen. Aber da ist der Nachbar, ein junger Mann mit kurzem Draht zum Ordnungsamt. »Der hat uns den Krieg erklärt, seit wir hier sind.« Und so müssen die Rollläden runter, als Lärmschutz. Reichmann sagt nicht, der Nachbar sei spießig oder intolerant, sondern »digital sozialisiert«. Heißt wohl: Computernerd. Ist das Ganze ein Generationenkonflikt mit vertauschten Rollen? Hier die Älteren, die ihre Musik live und laut mögen – dort die Generation iPod, die 10.000 Songs auf dem Rechner hat, aber nicht mehr raus geht, um sie zu hören?
Nicht unbedingt. Es geht auch harmonisch, den Beweis liefern Reichmann & Co. jedes Jahr beim Haldern Pop. Kein Musikfestival in Deutschland verbindet die Generationen so wie dieses. Manche Besucher kommen seit 20 Jahren, viele bringen inzwischen ihre Kinder mit. Das nächste Haldern Pop beginnt am 9. August, seit Mitte Dezember sind alle Tickets weg. Zu dem Zeitpunkt stand noch nicht eine Band fest. Dass sein Festival vor Weihnachten ausverkauft ist, hat Reichmann in 29 Jahren noch nicht erlebt. Es ist ein enormer Vertrauensbeweis. Und eine Bürde.
Der Kultstatus des Festivals hat durchaus Schattenseiten. Das Publikum ist anspruchsvoll, im Internetforum tummelt sich so mancher Pop-Fundamentalist. Künstler werden dort gerne mal abgelehnt, bevor sie überhaupt gespielt haben. »Mainstream-Nähe« gilt als besonders verfemt. Reichmann kann mit dieser Einstellung wenig anfangen: »Wenn du eine Veranstaltung nur noch machst, weil du cool sein willst, dann tust du deinem Publikum keinen Gefallen.« Jedes Festival müsse auch Melodie-Inseln haben und ein paar Konsens-Acts. »Danach kann du ja wieder ins Spiegelzelt gehen und dir schrägere Sachen anhören.« Es gehe einfach darum, ein gutes Festival auf die Beine zu stellen, sagt sein künstlerischer Leiter. Über Imagefragen macht er sich nicht viele Gedanken: »In den Medien klingt es manchmal so, als würden wir den Kultstatus selbst forcieren. Das ist Quatsch. Wir sind nicht Kult. Sowas können dir nur andere zuschreiben, und die müssen das verantworten. Grundsätzlich würde ich Haldern Pop nicht höher stellen als ein gutes Weinfestival im Ahrtal – wenn es von den Leuten gemacht wird, die dort wohnen, und andere sich darauf freuen.«
Tatsächlich hat die Stimmung in Haldern mehr Ähnlichkeit mit einem kleinen Volksfest als mit dem Konzertmarathon von »Hurricane« oder »Rock am Ring«. Das liegt an der familiären Atmosphäre, im übertragenen wie im realen Sinne. Das Festival ist mit 5.000 Zuschauern vergleichsweise klein. Mehr Gäste wären möglich, die Obergrenze soll trotzdem bleiben: »Wir mögen die Vorstellung, dass das Festival genauso groß ist wie der Ort. In der Konstellation können wir gute Gastgeber sein.« Gastfreundschaft, darüber spricht Reichmann gerne. »Wir haben keine Zugspitze und keinen Odenwald. Wir bieten die eigentliche Qualität des Niederrheins – gastfreundlich zu sein.« Auf guten Umgangston wird auch hinter den Kulissen Wert gelegt. 370 Personen arbeiten an vier Tagen auf dem Festivalgelände, darunter viele Freiwillige aus der Region. Sie werden in sogenannte Familien eingeteilt, auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind. Sie sollen sich nur so verhalten – möglichst unkompliziert und ohne große Hierarchien.
Ähnlich wie das »Wacken Open Air« in Schleswig-Holstein ist das Haldern-Festival vom Ort kaum noch zu trennen. In 29 Jahren ist es Teil der Dorfidentität geworden. Soziologen würden das Festival wohl auch als Strukturmaßnahme bezeichnen. Es ist ein Geldbringer für Pensionen und Gastronomie, Zulieferer und Technik. Wobei sich der positive Effekt nicht auf vier Tage im August beschränkt. Dafür sorgen diverse spin-off-Firmen, die aus dem Festival hervorgegangen sind. Da wäre, neben dem Festivalbooking, vor allem das Plattenlabel und die Werbeagentur Einfach, König & Du. Letztere arbeitet vor allem für Kunden in der Region. Hier entstehen Imagebroschüren für den Niederrhein, aber auch Reklame für Pferdefutter.
Reichmann beschäftigt Booker, Fotografen, Marketingexperten, Cutter und mehr. Der Ansturm auf diese Jobs ist so groß, dass jüngst die Zahl der Praktikanten beschränkt werden musste. Haldern Pop wirkt der Abwanderung von jungen Leuten entgegen und zieht Talente ins Dorf. »Wir wollen ein Milieu sein, in dem sich Leute sagen: ›Hey, in Haldern kann ich ein Praktikum machen, eine Ausbildung als Fotograf, hier lerne ich Leute kennen, die Videos bearbeiten und mehr – dafür muss ich nicht nach London oder Köln gehen.‹«
Neuester Teil der Haldern-Familie ist die »Pop Bar«. Seit einem Jahr gehört die ehemalige »Kneipe Koopmann« dazu. Viermal im Monat finden hier Konzerte statt – auch außerhalb der Festivalsaison. Das Modell ist so einfach wie ungewöhnlich. Die Künstler bekommen statt Gage ein Bett im nahe gelegenen Dorfgasthof. Nach dem Konzert geht ein Hut rum, die Hälfte des Inhalts kann die Band behalten. Das Naturaliensystem kommt selbst bei bekannteren Acts an. »Die Bands lieben die Gastfreundschaft hier«, erzählt Reichmann. »Die haben die Schnauze voll von den zugemüllten Kellern, in denen sie sonst schlafen müssen, von dieser überzeichneten Subkultur, die dahinter steckt.« Die Künstler kommen aus den USA, aus England oder Skandinavien, das Publikum reist aus ganz NRW und Holland an.
Die Pop Bar ist eine internationale Bühne im Dorf – und doch keine Hipsterinsel ohne Kontakt zur Außenwelt. Das zeigt sich auch optisch. Nach der Renovierung sollte kein Kulturschock folgen. Deshalb haben Reichmann & Co. Teile der ursprünglichen Einrichtung erhalten. Der alte Tresen steht noch, an der Wand hängen Schützenplaketten und Fotos der lokalen Fußballmannschaft. Das Ergebnis wirkt angenehm unironisch. »Das hier ist ein traditioneller Ort«, betont der Chef der Pop Bar, »wir wollten nicht, dass die Leute denken, wenn wir kommen, machen wir alles besser.«
Vor Großstadtdünkel bewahrt ihn schon die eigene Biografie. Er ist gegenüber von Koopmann aufgewachsen, inzwischen hat er selbst fünf Kinder, seine ganze Familie wohnt in Haldern. Es gab Angebote, woanders zu arbeiten und mehr zu verdienen. Reichmann ist geblieben. Bei allem Lokalpatriotismus romantisiert er das Landleben nicht. Er weiß, dass es sie gibt, die Provinzmentalität, auch in einem Pop-Dorf wie Haldern. An den Ortsvorstehern, Schützen und Sportvereinen kommt niemand vorbei. Bliebe Haldern Pop auf Distanz zu ihnen, wäre schnell Schluss mit dem Festival. Im Ort kursiert ein Spruch, der die misstrauische Haltung gegenüber »Abweichlern« zusammenfasst: »Gerda, gib mal das Gewehr, da drüben lehnt sich wer aus dem Fenster.«
Und so kann es nicht schaden, bescheiden zu bleiben und dem Dorf etwas zurückzugeben. Das tut Reichmann. Seine Werbeagentur designt Tourismusbroschüren, in der Schützenzeitung schaltet er Anzeigen, und wenn die Feuerwehr eine neue Wache bekommt, spendiert die Pop Bar schon mal das Bier. Im Idealfall springen sogar Wollmützen raus, auf denen vorne »Löschzug Haldern« steht und hinten das Logo von »Zippo«, einem der Festivalsponsoren (und Feuerzeughersteller). Die Feuerwehr wiederum sichert das Festival. Geben und nehmen. So funktioniert das System.
Heute Abend gibt Reichmann seinem Dorf die Band AU aus Portland, Oregon. Das Duo hat noch nie in Deutschland gespielt. Auf der Bühne haben sie eine Menge Hightech-Equipment aufgebaut, unter einem Wandgemälde, das eine Frau beim Melken einer Kuh zeigt. Die Musik ist dröhnender Avantgarde-Pop, auf dem Höhepunkt verlässt der Schlagzeuger die Bühne und zieht mit einem halben Dutzend Glocken bimmelnd durch den Saal. Die 50 Gäste schauen milde überrascht. Sie haben schon Kurioseres gesehen. Nächste Woche steht ein jüdischer Rapper aus Kanada auf dem Programm, der Klezmer-HipHop spielt. Wie’s weitergeht in diesem Melting pot am Niederrhein, verrät die Kreidetafel überm Tresen: »12.5. – DFB-Pokal«.
Haldern Pop Bar, Lindenstraße 1B, 46459 Rees-Haldern. Festival: 9. bis 11. August (ausverkauft). www.haldern-pop.de