Die Geschichte mit der Popkultur und dem Dorf läuft oft so: In der Mittelstufe beginnen clevere Musikfreaks aus dem Gefühl der Langeweile heraus, Parties zu organisieren. Im Jahr darauf werden erste Bands eingeladen, schließlich entsteht ein richtiges kleines Festival daraus. Die Musikfans machen Abitur, ziehen (zusammen mit den Bands) fort in die große Stadt und die nächste Generation fängt wieder bei Null an.
Genauso war es beim Haldern Pop Festival nicht – denn die Organisatoren sind ihrem Dorf treu geblieben, bis heute. Was 1984 aus einer von Ministranten des Ortes organisierten Party im niederrheinischen Rees-Haldern entstanden war, ist seit vielen Jahren Pilgerort für Musikfans, die Bands jenseits aller Genregrenzen erleben wollen und dafür mit Zelt oder Campingwagen in das 5000-Einwohner-Dorf in der Nähe der holländischen Grenze reisen. Weltstars wie Bob Geldof, The Cardigans oder die Dave Matthews Band traten bereits auf dem idyllischen Alten Reitplatz am Ortsrand auf. Die diesjährige Festivalausgabe wartet erneut mit einem bewundernswerten Line-up auf, darunter mit dem irischen Folk-Shootingstar Dermot Kennedy, dem Soul-Reanimator Michael Kiwanuka und Songwriter Niels Frevert.

Seit 2002 immer ausverkauft, durch Übertragungen des WDR-»Rockpalast« geadelt und mehrfach preisgekrönt, sieht Stefan Reichmann, Mitgründer und künstlerischer Leiter, Haldern Pop weiterhin in der Tradition seiner Anfänge vor 36 Jahren: »Ich finde, dass wir nicht so weit weg von dem sind, wo wir zu Beginn waren, als man mit der roten oder der blauen Beatles-LP zum besten Freund geradelt ist, um sich die besten Stücke vorzuspielen«, erklärt er. »Es geht immer noch darum, Dinge zu entdecken, von Musik begeistert zu sein und sie anderen Leuten vorzuspielen. Ihnen zu sagen: Komm, hör Dir das doch mal an!« Dafür gehen Reichmann und sein Team immer wieder Risiken beim Booking ein, wenn sie zum Beispiel den Avantgarde-Pianisten Nils Frahm zur besten Festivalzeit auf die Hauptbühne stellen oder das Publikum wie im vergangenen Jahr mit dem Schlagersänger Stefan Florian konfrontieren.
Gespielt wird auf sechs Bühnen – sogar in der St. Georg Kirche im Ortskern
Diese Offenohrigkeit macht auch für die Künstler einen Besuch des Festivals besonders. Im vergangenen Jahr hatte Martin Bechler, alias Fortuna Ehrenfeld, auf dem Haldern Pop gespielt. Gerade ist sein drittes Album »Helm ab zum Gebet« erschienen, das (auch) eine Verneigung vor den Absonderlichkeiten der Großstadt und den übersehenen Diamanten im ländlichen Raum ist. »Die Atmosphäre in Haldern ist familiär«, sagt der Kölner Songwriter. »So legt sich ein unfassbar gechillter, menschenfreundlicher Film über das ganze Gelände. Man fällt dann einfach enorm inspiriert und glückselig ins Zelt.« Oft entstehen durch den Auftritt in Haldern Kooperationen. Bechler hat bereits mehrfach mit der Haldener Blaskapelle zusammengearbeitet, um mit ihr auf der Hauptbühne seinen Song »Das letzte Kommando« zu spielen »Auch bei denen spürt man einfach Loyalität, Freude, Verbindlichkeit. Irgendwas scheint da im Grundwasser zu sein…«, sagt Bechler.

Gut 7.000 Besucher strömen Jahr für Jahr Anfang August in das beschauliche Dorf Haldern. Für drei Festivaltage herrscht dann Ausnahmezustand. Jede Bäckerei und jede Kneipe des Ortes werden von Musikfans belagert. Sechs Bühnen, darunter neben dem Festivalgelände mit seinem Spiegelzelt auch die St. Georg Kirche im Ortskern, begrüßen mehr als 70 Bands. Für das Gelingen braucht es eine Menge Verständnis der Dorfgemeinschaft. Im Gegenzug bemühen sich die Organisatoren sehr, die Ortsbewohner einzubinden. Kooperationen zwischen Altenheim und Festival sind entstanden, mit denen die Heimbewohner Konzerte des Festivals erleben können. Ein Biergarten lädt auf dem Festivalgelände auch die Anwohner zum Miterleben des Trubels ein. Jungen Menschen ermöglicht das Festival die Ausbildung zum Konzertveranstalter.
»Sehr viele Leute und bei weitem nicht nur Musikliebhaber werfen ihre Fähigkeiten für das Festival in den Topf – die freiwillige Feuerwehr, der Schreiner, der Elektriker, die Bauern. Wir leben als Festival von der Struktur und den Institutionen des Dorfes«, sagt Stefan Reichmann: »In dem Moment haben dann alle eine Gemeinsamkeit, weil sie zusammen an dem Festival mitwirken. Daraus entstehen Zugehörigkeit und Kommunikation.« Faktoren, die dabei helfen, das soziale Gefüge an einem Ort wie Haldern, der wie alle ländlichen Räume durch demographische Veränderungen und Konflikte zwischen Bleibenden, Kommenden und Gehenden gefordert ist, zusammenzuhalten.
Ganzjährig geöffnet: die Haldern Pop Bar
Eine besondere Rolle spielt die Haldern Pop Bar. Sie wurde 2009 in den Räumen einer leerstehenden Kneipe eröffnet und ist mittlerweile zu einem Nukleus des Haldener Kulturlebens geworden. Bands nutzen ihre konzertfreien Reisetage für einen Zwischenstopp am Niederrhein und bringen auf diese Weise ganzjährig internationale Pop-Kultur hierher. »Durch die Bar ist die Attraktivität des Ortes sicherlich gewachsen«, ist Reichmann überzeugt. »Man kann am Abend rausgehen, sich eine Band aus Australien angucken, mit denen ein bisschen reden, geht danach nach Hause und hat nicht das Gefühl, man müsste unbedingt in die Stadt ziehen.« Die Haldern Pop Bar ist aber mehr als ein Musikort. Wenn gerade keine Band spielt, schauen oft auch Großvater und Enkel ein Fußballspiel zusammen und plaudern Nachbarn bei einem Bier. So verbindet die Haldern Pop Bar, genau wie das Festival selbst, alt und jung am Niederrhein – mit oder ohne Australier am Nachbartisch.