Alexander Kluge zitiert in seinem neuen Erzählprojekt »Das fünfte Buch«, das 402 Lebensläufe versammelt, den Roman über die »Prinzessin von Clèves«, im 17. Jahrhundert verfasst von Marie-Madeleine de la Fayette. Deren poetisch-praktisches Programm lautet: »Du sollst Achtung haben vor der Wildheit, dem Eigensinn, der Genauigkeit deiner Empfindungen.«
Die Forderung hätte sich an Hannelore Hoger richten können. Sie hat das Gebot erfüllt. Ihr Gesicht bildet den Aufbruch des Neuen Deutschen Films ab, seit sie mit Alexander Kluge den Abschied vom Gestern markierte. Nicht das, nur ein Gesicht sei sie gewesen, schränkt sie ein. Andere Regisseure damals »fanden mich nicht glamourös genug«. Wohl hat sie mit Schlöndorff gedreht; auch Fassbinder habe mal angefragt; aber das sagte ihr nicht zu. »Vielleicht ein Fehler.«
Bei Kluge spielte sie vor einigen Jahrzehnten die Leni Peickert und dann »Die Patriotin« Gabi Teichert: Artistin und »Reformzirkus«-Chefin die eine, Geschichtslehrerin die andere, die sich in die deutsche Vergangenheit eingräbt. Kluge (»Der schrieb immer«) verlangte: »Sag mal was!«, um die Gesprächsmomente dann einzuarbeiten in seine Filmgeschichten. »Aber ich wusste nichts und konnte auch nicht reden – damals. Heute kann ich es besser.« Die wunderbar vertrackten, einfach komplizierten Figuren des Kopfmenschen Kluge habe sie »über das Naive« vermittelt.
Als sie mit dem Regisseur gemeinsam 1968 in Venedig für »Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« den Goldenen Löwen gewann, geriet das Festival in helle Aufregung. Einmal sitzt Hoger nackt in der Wanne (ihr Partner Alfred Edel auch, aber das scherte keinen). Gleich galt sie als Sünderin, wie zuvor die Knef – denn »meine Schamhaare waren sichtbar«. Sie zeigte mehr als fünf Jahre zuvor Brigitte Bardot in Godards »Verachtung«, die sonst nicht geizte mit der süßen Haut.
Am 23. März erhält Hannelore Hoger vom Grimme-Institut eine besondere Ehrung des Deutschen Volkshochschul-Verbandes für ihre »hohe Darstellungsintelligenz, stets spürbare Interpretationswachheit, intensive Präsenz«.
Sie wundert sich. »Keine Ahnung, weshalb«, sagt sie, nachdem sie sich in dem etwas zugigen Foyer des Hamburger Hotels Atlantic im Sessel eingerichtet und den Flausch-Pelz fest um sich drapiert hat. Angst habe sie schon jetzt. Sie müsse schließlich in Marl wohl auch was sagen. Überhaupt findet sie: »Preise braucht man, wenn man jung ist.« Andererseits, fürs Theater habe sie nie einen Preis bekommen, »obwohl ich da gute Sachen gemacht habe – eigentlich die besseren«. Übers Fernsehen fallen nebenbei Worte wie »spießig, Sparflamme, Kunsthonig«. Sie aber mischt einiges an Edelsüße und Bittergeschmack unter, im Kino sowieso (Düsseldorf immerhin verlieh ihr 2001 den Helmut-Käutner-Preis) bei Blumenberg und Dietl, und auch im Fernsehen bei Egon Monk, Karin Brandauer, Max Färberböck.
These und Antithese: Hoger war Ralph Giordanos couragierte Lea Bertini, die ihre »halbjüdische« Familie durch die Nazijahre bringt, und bei Edgar Reitz in dessen »Zweiten Heimat« die Mäzenatin und Vatertochter Elisabeth Cerphal, die in ihrer Münchner Villa offenes Haus führt – etwas madamig, etwas chanelig, etwas bourgeois und etwas studentisch.
Am Anfang von »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos« trägt Hoger, als wäre es eine Szene von Fellini, ein Zirkuskostüm. Leni Peickert ist konzentriert, aufmerksam, entschlossen, eine Mischung aus Simone de Beauvoir und Jeanne d’Arc. Im Französischen gibt es die Ehrenbezeichnung »monstre sacré«. Ist sie solch ein geheiligtes Ungeheuer, dem sich der Kulturbetrieb bewundernd und furchtsam nähert und es doch nicht domestiziert? Die Klassifizierung amüsiert sie.
»Ich weiß, ich habe einen Ruf wie Donnerhall. Aber ich mach’ doch gar nix. Ich bin pflegeleicht.« Weiß sie wirklich nicht um ihre Wirkung, dass einige lieber in Deckung gehen? »Einschüchternd? – na ja, kann schon sein.«
Wenn man Hannelore Hoger begegnet oder in ihren Rollen sieht, spürt man, dass sie sich in der Behausung ihres Körpers wohl fühlt, den sie wie eine bullerwarme, etwas zu große, unaufgeräumte und nach Kraut und Rüben sortierte, vor langem bezogene und mit Persönlichem voll gestopfte Wohnung in Besitz genommen hat. Sie hat ein gesundes Selbstverhältnis und ein Ich, das sich früh zu sich selbst bekannt hat. In einem Fragebogen gab sie »meine Wut und meine Zärtlichkeit« als Eigenschaften an, die sie an sich mag. Sie kann sich ironisch kosend »Hannelörchen« nennen. Ist sie zärtlich auch mit sich?
»Ja, vielleicht«, sinnt sie und sieht auf einmal aus wie ein junges Mädchen. »Am liebsten wäre ich noch mal sieben«. Das sei für sie im Übrigen eine männliche Zahl. Männer hätten es im Alter einfacher. Über ältere Frauen würden blöde Witze gerissen, »meistens unterhalb der Gürtellinie«. »Ich finde es schön, wenn Menschen überhaupt nicht wissen, wie alt sie sind.« Oder sie stellt sich ein Matriarchat vor. Wie da die Verhältnisse kippen. »An der blanken Umkehrung kannst du gesellschaftlich fast alles ablesen.«
Sie hört nicht gern, wenn sie als starke Frau bezeichnet wird. Das empfindet sie als Zumutung, weil das Attribut Männern eine Art Freibrief ausstelle. Sie hält sich für »schüchtern«. Wenn, so ist es ein Wesenszug, den sie offensiv umgewandelt hat. Scheu, aber ohne Hemmungen auf der Bühne: »Ich steh’ da gern.« Seelchen aus Eisen.
Dann erzählt sie drauflos. Von ihrer Mutter und davon, wie die mal zu ihrem Arzt gegangen sei und der berichtet habe, dass er die alten Bäume vor seinem Haus habe fällen lassen. Die Mutter habe darauf gefragt: Machen Sie das auch mit Menschen? – und sei nie mehr zu ihm gegangen. Erzählt von ihrer langen schweren Krankheit als Baby. In der Klinik hatte man sie aufgegeben und in die »Totenkammer« geschoben. Die Mutter habe sie raus geholt. »Ich bin immer noch da.« Hoger, die Überwinderin: »Ich war die Kleinste und die Jüngste, aber auch die Schnellste«.
Gleiches gilt für den Beruf: »Ich bin immer weiter gelaufen.« Ohne Lobby. Wenn sie wohin engagiert worden sei, wären die Kolleginnen schon vernetzt gewesen oder alle hätten mit allen Verhältnisse gehabt. Hoger: die Außenstehende. Aber sie hatte das Glück, mit Menschen zu arbeiten, »die mich liebevoll angeblickt – und mich auch durch den Winter gebracht haben«. Konflikte hat sie nie gemieden. Zwang kann sie nicht ab. Kränkungen tun ihr physisch weh. »Ich halte das nicht aus. Ich bin richtig krank geworden.«
Sie betont ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, auch die materielle, dass sie Selbstversorgerin ist, hart gearbeitet, sich und Ihre Tochter durchgebracht und auch noch die Eltern – der Vater war Inspizient am Ohnsorg Theater – unterstützt hat. Zuhause hatte man wenig Geld. Als sie mit Zwanzig ihre Nina bekam und das Kind allein und mit Hilfe der Eltern aufzog, verdiente sie 300 Mark brutto. Sie könne mit wenig auskommen. Abgesehen von ihrem Faible für Handtaschen und Schuhe. Eigentum vermisst sie nicht. Als Bella Block fährt sie einen alten VW-Käfer.
Es hat sich eine Menge Grundwasser gesammelt und sprudelt hervor als »kräftige emotionale Quelle«. Gelernt hat sie eines: Dinge müssen raus. »Schreiben Sie alles auf, aber schicken Sie die Briefe nie ab«, gab ihr eine Therapeutin mit auf den Weg. Ein anderer Seelen-Profi, der sich bei Hogers Anblick gleich hinter dem Schreibtisch verbarrikadierte, hielt sie sich vom Leib mit dem Segensspruch: »Bleiben Sie, wie Sie sind.« Der Regisseur Augusto Fernandes, den sie wegen seiner Improvisationsarbeit sehr schätzt, riet ihr, wenn mal wieder die Energien schäumten und ihr nach Schreien war: »Du musst dreimal um den Block laufen«. Fernandes nannte sie »einen Trabi mit Porsche-Motor.« Heute, ulkt sie, werde es wohl eher ein VW-Motor sein.
Sie schiebt ihre Sätze raus wie Bella Block, die sie, mittlerweile als pensionierte Kommissarin, in 30 Folgen im ZDF gespielt hat und mit zwei letzten Fällen abschließen wird. Noch tickt Bellas Herz. »Der Blick so innerlich und unbeugsam«, wie ihr Ex-Assi Martensen (Devid Striesow) sagt. Wiederholungstäterin in der müd’ machenden Erkenntnis, dass »nichts gut« sei. Nicht abgestumpft, nicht gepanzert gegen Unrecht. Auch nicht immun gegen das Erotische. Etwas südlicher in Europa wäre das ohnehin kein Thema. Hoger hätte einen Pedro Almodóvar oder François Ozon treffen können. Aber auch ohne diese Frauenregisseure bringt sie eine Präsenz wie Jeanne Moreau auf oder Simone Signoret, die sie ebenso bewundert wie die einige Jahre jüngere Meryl Streep.
Hoger behauptet das Menschenrecht auf Sinnlichkeit, Lust, Sexualität. Allein, sie sei »empfindlich« in diesen Dingen… Eine Frau, Polizistin, Bürgerin – unwirsch und mürrisch gegenüber der Routine und Prosa der Verhältnisse, aber wach und voller Empathie für die dunkle Dichtung von Leiden und Leben. Sie wendet ihre Energien nicht fürs Funktionieren auf, verachtet Maßregeln und Mittelweg. Betrifft Bella Block und Hannelore Hoger. Unverstellt, leger, direkt. Sie redet salopp. »Krachtante«, »Kuchentante« – solche Sachen. Man muss mit ihr nicht auf Etikette achten. Etepetete liegt ihr nicht. Strickpullover tut’s auch.
»Common sense« habe sie, schreibt Peter Zadek. Wird Zeit, dass der Name fällt, der für ihre Karriere nicht weniger wichtig war als Kluge, seit sie sich 1960 am Theater Ulm begegneten und gemeinsam nach Bremen, Bochum, Berlin zogen. In seinen Lebenserinnerungen attestiert ihr der 2009 in Hamburg gestorbene Theatererneuerer »Bodenständigkeit«, eine »nicht abbrechende Phantasie« und die rare Begabung, jenen »Schwebezustand« herstellen zu können, bei dem Spiel und Abbildung des Lebens sich unauflöslich kunstvoll verschränkten.
Da staunt sie ein bisschen. Gelesen hat sie Zadeks beide Bände nicht. Sie nennt ihn »sehr generös«. Es gab einen Bruch in der Beziehung, langes Schweigen (»Vielleicht hätte ich einlenken sollen«) und eine späte Versöhnung, als sie 2005 gemeinsam mit Gert Voss in Wien Strindbergs »Totentanz« aufführten.
Zadek sei ein Regisseur gewesen, dem man »vertrauen« konnte und der »auszuwählen« verstand. »Der Schauspieler muss auch etwas Schlechtes, muss Fehler machen dürfen.« Der kreative Moment bedeute, dass sich aus Nicht-Wissen etwas eröffne: »wie eine Befruchtung. Entweder kommt ein Kind dabei raus oder nicht«. Ein Schauspieler sei »sein eigenes Instrument. Ganz kalt sollte man nicht anfangen. Der Körper wird langsam warm und zieht einen rein in die Emotion. Das ist wie eine Jam-Session. Man lässt sich von sich selbst überraschen.«
Wenn das nicht funktioniert? »Dann denke ich, was für ein furchtbarer Beruf. Das ist wie in einer Beziehung, man verkrampft.« Hannelore Hoger, die Achtundsechzigerin, die Norddeutsche mit der proletarischen Basis, die kommunikative Einzelgängerin, zitiert schon mal gern Karl Marx: »Nur Arbeit und kein Spiel macht dumm.« Sie erwähnt dann noch den Dokumentarfilm über Gerhard Richter – der habe »sein Ding gefunden«. Am Ende von Corinna Belz’ »Painting« sage der Maler, und Hannelore Hoger kann dem nur zustimmen: »Macht das einen Spaß!«
Grimme-Preis-Verleihung: 23. März 2012 im Theater der Stadt Marl; Hannelore Hoger erhält den Preis als besondere Ehrung, nachdem sie 1994 mit Gold für »Bella Block«ausgezeichnet worden war; www.grimme-institut.de
Lit.Cologne: Hannelore Hoger und Richy Müller brechen mit dem Programm »Ich bin so wild nach deinem Gummihund« zur literarischen Expedition in die Welt des Fetischismus auf; 18. März 2012; Theater am Tanzbrunnen; www.litcologne.de