Frank Castorfs fünfeinhalbstündiger Theaterexzess nähert sich langsam seinem Ende, als der von Bruno Cathomas gespielte Molière seine Sicht auf die Kunst und das Leben als Künstler auf den bitteren Punkt bringt. Die Kunst ist immer abhängig von den gerade herrschenden Mächtigen. Ohne deren Gunst wird kein Künstler überleben können. Wenn er endlich einen Gönner gefunden hat, bleibt dem Künstler nur eins, so viel wie nur eben möglich aus der Situation herauszuholen. Danach heißt es dann, rechtzeitig zu verschwinden, bevor ihm die stets wankelmütigen Herrschenden ihre Gunst wieder entziehen.
Ein Künstler, so wie ihn sich dieser von seinem exzessiven Leben gezeichnete Molière und mehr noch Frank Castorf vorstellen, ist immer auch eine Art von Betrüger. Einer, der sich durchschlagen und die Kunst der Täuschung beherrschen muss. Insofern sollte es niemand überraschen, dass auch »Molière. Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet« etwas von einem Taschenspielertrick hat. Nachdem Cathomas den Prinzipal des Bankrott gehenden »Illustre Théâtre« als tyrannisches Genie und rücksichtslosen Frauenhelden etabliert hat, verschwindet er für mehrere Stunden aus der Inszenierung und über Aleksandar Denić‘ Breitwandbühne mit ihren verborgenen Räumen, aus denen Live-Videos übertragen werden, dem restlichen Ensemble. Das stürzt sich in eine dieser für Castorf so typischen Text- und Szenencollagen, deren roter Faden sich höchstens erahnen lässt.
Zusammengehalten wird die Inszenierung dabei vor allem von Jeanne Balibar, die Molières Geliebte Madeleine Béjart und noch zahlreiche kleinere Rollen spielt. Eine davon führt direkt ins Zentrum des Abends und der immer zerstörerischen Macht, der Künstler ausgeliefert sind. Als sie den von Justus Maier gespielten Dichter Ossip Mandelstam wegen eines Stalin-kritischen Gedichts verhört, wirkt Balibar fast wie ein emotionsloser Automat, ein Rädchen im Getriebe einer tödlichen Maschinerie, die neben Mandelstam auch Meyerhold und den von Marek Harloff verkörperten Bulgakow verschluckt hat. Dass Bulgakow als ein besonderer Günstling Stalins schließlich wieder von ihr ausgespuckt wurde und überlebt hat, ist eine der bitteren Ironien, von denen Castorf an diesem Abend auch erzählt. Die Macht der Könige und Tyrannen, der Politiker und der Reichen, ist nicht nur schrecklich. Sie ist vor allem erschreckend willkürlich.
Lobgesang auf das Unperfekte
Eben dieser Willkür des Staates und der Politik setzt Castorf mit seinem immer wieder wie verstört über die Bühne laufenden Ensemble eine andere poetische Form von Willkür entgegen. Eine Kunst, die sich ständig gegen den Terror eines mörderischen Staatsapparats oder auch den Terror des Geldes behaupten muss, kann Freiheit nur in Subversion finden. Der Subversion, der sich Molière und seine Truppe von Komödianten verschrieben haben, wenn sie die Mächtigen ihrer Zeit karikieren, oder auch der Subversion, für die der japanische Butoh-Tanz und sein Schöpfer Tatsumi Hijikata stehen.
In der eindrucksvollsten Szene der Inszenierung scheint Castorf Molière endgültig vergessen zu haben. Während auf der Leinwand oberhalb der Bühne ein Dokumentarfilm über die von den US-amerikanischen Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki verursachten Zerstörungen läuft, trägt der halb als Mann, halb als Frau geschminkte Schauspieler Kei Muramoto einige Hijikatas über den Butoh-Tanz vor. Hijikatas Lobgesang auf das Unperfekte, auf Missbildungen, auf den Schmerz und auf den Tod wird dabei noch von einer zwischen Stillstand und Exaltation schwankenden Choreografie Jeanne Balibars begleitet. Der Film, der Monolog Muramotos und Balibars Bewegungen fügen sich zu einem nahezu mystischen Lobgesang auf die Widerstandsfähigkeit der Kunst zusammen. All die Künstler, die Castorf als seine Seelenverwandten betrachtet, sind längst nicht nur Betrüger. Sie sind auch die einzigen, die der Maschinerie der Macht zumindest eine Zeit lang widerstehen und sie vielleicht für Momente zum Stillstand bringen können.
Termine: 28. Januar, 4. & 6. Februar und 5. März im Depot 1