Neun Geschichten vereint Ralf Rothmann in seinem großartigen neuen Erzählungsband »Museum der Einsamkeit«. Es sind Liebesgeschichten und Verfallsgeschichten, mal komisch, mal traurig und innig erzählt. Geschichten, die unterschiedlich ans Herz greifen, es rühren, erschüttern oder beklemmen.
Einmal heißt der Ich-Erzähler wiederum Simon, wie er uns in Büchern von Ralf Rothmann schon begegnet ist, und kommt aus Oberhausen; wiederum ist er Maurerlehrling und für ein paar Wochen auf einer Schulbaustelle, eingerichtet in einem ehemaligen Karmeliterkloster. Die Gegend – wiederum – das Ruhrgebiet, und auch die Wünsche und Fantasien, Begierden und Beklemmungen des jungen Mannes wiederholen sich. Sogleich bringt sich die Zeit um 1970 ins Spiel, instrumentiert in Songs von Dusty Springfield wie »I close my eyes and count to ten«. Und gleich auf der ersten Seite des Bandes stellt sich die Stimmung ein, die er unverkennbar hervorzurufen vermag, der Rothmann-Sound, und macht sich etwa bemerkbar an Adjektiven, die sich an Substantive schmiegen wie »keusche Kleider« oder »durchsonnte Honiggläser«.
Erkennbar auch daran, dass dieser Autor den Gott der kleinen Dinge anbetet und mit seiner Wahrnehmungs-Genauigkeit scheinbar Unscheinbares, doch Charakteristisches von Personen, Gegenständen, Handlungen und Handreichungen beschreibt. Zum Beispiel, wie man mit einem Trinkröhrchen eine Kakaotüte ansticht und weshalb das Bohren manchmal nicht klappt. Schon feiert die eigene Kindheit und Jugend Auferstehung. Rothmanns Minimalismus wächst ins Große hinein. Wir befinden uns in der ersten von neun Geschichten. Sie heißt »Normschrift«. Die zotige, Testosteron-gesättigte Jungmännersprache kann nicht überdecken, dass es um etwas anderes geht: um Sehnsucht, Befremden angesichts des Ziels, das Körper sich suchen können, um Liebe und Verrat, die sich lose an Shakespeares »Othello« binden.
Traum von der Ferne
Es sind Liebesgeschichten und Verfallsgeschichten, die uns führen zu wenig zueinander passenden Paaren (»Eine kleine Metall-Unterhaltung«). Somit sind es auch komische, traurige und innig erzählte Geschichten wie in »Herr Dingens« von einem Vater, Pastor Thomsen, und seiner achtjährigen Tochter Pia, die auf der Krebsstation liegt und größere Wahrheit und Glaubenskraft besitzt, als der Kirchenmann, der sich zu sehr bemüht, dem Kind gegenüber heiter zu sein. So wie die Geschichte – und überhaupt häufig der letzte Abschnitt einer Rothmann-Erzählung – gewissermaßen ins Metaphysische einer Naturerscheinung oder ins Erlösende verschwebt, verwandelt sie sich in große Literatur.
All diese Figuren – ob gut situiert, mit nichts auf der hohen Kante oder noch nicht etabliert, aus der Bahn geworfen oder mit sich und Gott im Reinen – sind beheimatet in Rothmanns »Museum der Einsamkeit«, ohne dass der Buchtitel einem der Erzählstücke den Namen gegeben hätte, sondern sich vielmehr einem Versprecher verdankt. Aber tatsächlich gilt er für alle. Die Geschichten, die im Kohlerevier an der Ruhr, an der Mosel oder Ostsee, in Hannover oder Frankfurt am Main spielen, haben den Geruch der Provinz inhaliert und atmen ihn mit dem Traum von der Ferne und einem Anderswo aus. Geschichten, die unterschiedlich ans Herz greifen, es rühren und einmal tief erschüttern (»Schimmel in der Orgel«). Oder beklemmen wie in »Die Melodie bei Nacht«, darin zwei Paare, ein mittelaltes und das betagte Ehepaar Silberer, zwei Etagen einer Villa bewohnen, die jüngeren als Mieter, die älteren als Eigentümer, und sich zwischen ihnen eine beinahe feindselige, von kultivierten Umgangsformen bemäntelte Stimmung ausbreitet, bis ein surreal anmutendes Schlussbild dieses Miniaturdrama beendet, das Dunkles ahnen lässt, ohne es offenzulegen.
Der 1953 geborene Rothmann, der mit lässiger Sicherheit Sprache als Präzisionsinstrument einsetzt, ist intellektuell, aber nicht verkopft, handfest, aber sensibel – und schreibt ebenso, bis dahin, dass in seiner Prosa ein lyrisches Echo nachklingt.
Manchmal (»Budenzauber«) lässt Rothmann das junge Licht seiner frühen Jahre aufleuchten, darin die feierlustige, Zigaretten rauchende Mutter, der ruhige Vater, der unterm Dach Tauben hält, die Einkäufe bei Schätzlein, die Hitze des Sommers in der stickigen Wohnung einer Zechensiedlung oder die Routinen auf einer Baustelle wie Staubpartikel zu tanzen beginnen. Aber nicht nur hier steht hinter dem Rothmann-Satz »Wir hatten auch gute Jahre«, der mit ernüchterter Sentimentalität zurück heimwärts schaut, sogar wenn der Blick näher an die Gegenwart (»Engel auf Krücken«) rückt, immer ein unsichtbares Fragezeichen.
Frage- und Lebenszeichen: noch in der letzten, abgründigen, Geschichte, die von den übrigen sich unterscheidet, und aus doppelter, Täter- und Opfer- Perspektive das Lager Westerbork und eine Fahrt in die Vernichtung schildert.

Ralf Rothmann, »Museum der Einsamkeit«, Erzählungen, Suhrkamp, Berlin 2025,
geb., 268 S., 25 Euro.
Lesung: 24. Juni, Köln, Agnes-Buchhandlung