Auch als James Ensor internationale Anerkennung genoss, blieb Ostende Lebens- und Arbeitsmittelpunkt des Malers. So macht es Sinn, dass eine der vielen Ausstellungen, die zum 75. Todestag des Belgiers gezeigt werden, der Liebe zu seiner Heimat gewidmet ist: »Ostende, Ensors imaginäres Paradies« ist in den Venezianischen Galerien an Ostendes Strandpromenade zu sehen.
Manche Künstler*innen sind besonders eng mit einer Stadt verbunden – und die Stadt mit ihnen. Claude Monet mit Giverny, Antoni Gaudí mit Barcelona, Frida Kahlo mit Mexiko-Stadt – das sind drei prominente Beispiele, in denen ein solches Zugehörigkeitsgefühl Gestalt angenommen hat. James Ensor und seine Anhänglichkeit an Ostende dürfen mit Fug und Recht in einem Atemzug mit ihnen genannt werden.
In der Rue Longue 44 wurde James Sydney Ensor (so sein vollständiger Name) am 13. April 1860 geboren. In der Hafenstadt, vor der weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein mondänes Seebad, verbrachte der Maler den Großteil seines Lebens. Im Erdgeschoss des Hauses, das seinem Onkel Leopold Haegheman gehörte, betrieben seine Mutter Catharina und deren Schwester Mimi einen Laden. Kaufen konnte man dort Souvenirs, Muscheln, Kuriositäten, Scherzartikel, Masken und Karnevalskostüme. Eine visuelle Fundgrube für den kleinen James, der als »Maler der Masken« in die Kunstgeschichte eingehen sollte. 1917 erbte Ensor das nahe der Strandpromenade gelegene Stadthaus, das er mit seinem Diener Auguste Van Yper bezog. Hier wohnte er bis zu seinem Tod – heute vermittelt das Ensor-Haus mit seinen teilweise im Originalzustand erhaltenen Räumen einen guten Eindruck davon, wie der Meister gelebt und gearbeitet hat.
In den lokalen Künstlerkreisen, unter anderem im Cercle Artistique und der Compagnie du Rat Mort, hatte seine Stimme Gewicht. Ausdruck seines Ruhmes zu Lebzeiten ist ein Denkmal, das dem zum Baron geadelten Ensor 1930 im Garten des Kasinos in Ostende gesetzt wurde. Als er am 19. November 1949 mit 89 Jahren starb, bekam er sogar ein Staatsbegräbnis.
Von Stilleben bis zu Selbstporträts
Dass der Künstler nicht bloß eine charismatische Persönlichkeit war, sondern zudem zu den vielseitigsten Figuren der Klassischen Moderne gehört, demonstrieren anlässlich des 75. Todesjahres etliche Präsentationen in Ostende, Antwerpen und Brüssel. Ehre, wem Ehre gebührt. Seine Heimatstadt feiert ihn mit Sonderausstellungen zu den Stillleben, den Selbstporträts und dem satirischen Element seiner Kunst. Und mit der Schau »Ostende, Ensors imaginäres Paradies«, für die Herwig Todts verantwortlich zeichnet.
Der Ensor-Spezialist und Kurator am Königlichen Museum der Schönen Künste in Antwerpen kann aus dem Vollen schöpfen, denn ohne die Stadt an der belgischen Nordsee-Küste ist die Malerei von James Ensor undenkbar. Eine Liaison, die früh begann: Schon auf dem Dachboden seines Elternhauses richtete sich der junge Künstler ein beengtes Atelier ein – dessen größter Vorzug war der Panoramablick auf die Stadt und auf das Meer: Seine Pleinair-Landschaften konnte Ensor von der heimischen Staffelei aus malen.
In den Venezianischen Galerien, 1900 im Auftrag von König Leopold II. erbaut und heute als städtische Ausstellungshalle genutzt, entfaltet sich nun ein Stadtpanorama in Form von Gemälden, Zeichnungen, Grafiken und historischen Fotografien. Mit Ensor schauen wir auf die Dächer von Ostende, begegnen an der Küste einem mit spontanem Pinselstrich wiedergegebenen Fischerpaar und blicken auf die Kirche Notre-Dame-des-Dunes von Mariakerke (heute ein Stadtteil von Ostende). Als in den 1890er Jahren der Abriss der Dünenkirche erwogen wurde, machte Ensor gegen den barbarischen Plan mobil und warnte vor »gotteslästerlichen Untaten«. Mit Erfolg: Seine Lieblingskirche blieb unangetastet. Auf ihrem Friedhof befindet sich heute James Ensors Grab.
»Ostende, Ensors imaginäres Paradies«, Venezianische Galerien, Ostende, 29. Juni bis 27. Oktober
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