»Ein scharfer Wind rötete Johannes Dirks‘ Wangen, als er an diesem kühlen Morgen mit seiner Frau und einem seiner Söhne am Gleis des Bahnhofs von Heide stand.« Alexander Brauns Monographie zu Leben und Werk der Comic zeichnenden Brüder Rudolph und Gus Dirks, »Katzenjammer«, beginnt wie ein Roman. Und auch die restlichen fast 500 Seiten des großformatigen Buchs mit vielen farbigen Abdrucken kann man nicht bloß als wissenschaftliche Publikation oder Ausstellungskatalog bezeichnen. Es ist ein schillerndes Zeit-Panorama, wissenschaftliche Abhandlung, Essay und quasi literarische Figuren-Einfühlung, die die Entstehung der weltweit ersten Comics umkreist.
Erschienen ist das Buch zur Ausstellung »125 Jahre Katzenjammer Kids – Der älteste und längste Comic der Geschichte«, die noch bis 10. April im Dortmunder schauraum comic + cartoon zu sehen ist. Doch wie gesagt ist es viel mehr als ein Katalog: Es erzählt mit allen Verästelungen eine spannende Geschichte, die in der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts beginnt, als Deutsche Wirtschaftsflüchtlinge waren und ihr Glück auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans suchten. So beschreibt der oben zitierte erste Satz die Auswanderung von Rudolph und Gus Dirks‘ Vater, des Holzschnitz-Künstlers Johannes, in die USA.
Bis die Leser*innen die Szene von Rudolph Dirks Anstellung beim New York Journal erzählt bekommen, die 1897 zu den ersten Comic-Strips mit den Katzenjammer Kids führen, sind schon fast 100 Seiten an ihnen vorbei gezogen. In ihnen geht es sehr ausführlich und mit tollen, anschaulichen Zeitdokumenten um das Drama der Auswanderung, die harten Zeiten der Familie in Chicago und den Zeitungskrieg zwischen den mächtigen Verlegern Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst. Rudolph Dirks und später auch sein jüngerer Bruder Gus, der sich früh das Leben nahm, kamen bei Hearst unter und arbeiteten an einer Weltneuheit: Comic-Strips mit wiederkehrenden Charakteren in Serie – die nach und nach auch mit Sprechblasen versehen wurden, um direkte Rede im Hier und Jetzt zu suggerieren.
Das Spannende an der Methode des Kunsthistorikers Alexander Braun, der das Buch zusammen mit dem Zeichner und Comic-Forscher Tim Eckhorst geschrieben hat, ist seine genuin wissenschaftliche Hinterfragung aller bekannten Fakten. Im Kapitel über die Geburt der Katzenjammer Kids, die übrigens bis 2006 weiter produziert und bis heute in Zeitungen gedruckt werden, erzählt er zum Beispiel auch, dass der leitende Redakteur des New York Journal sich Lausbuben-Streiche im Stil von Wilhelm Buschs »Max und Moritz« gewünscht habe. Später macht er aber klar, dass es keine Gewissheit darüber gibt, ob in einer Unterredung wirklich vom konkreten Vorbild »Max und Moritz« die Rede war – oder dies ein Mythos ist.
Später zieht er sogar ein Haupt-Verkaufsargument seines eigenen Buchs in Zweifel, nämlich die Frage, ob man bei den Katzenjammer Kids vom ersten Comic der Geschichte sprechen kann: »Es gab überhaupt keinen ‚Big Bang‘, der einen Comic hervorbrachte, wie wir ihn heute kennen, und es gab auch kein Publikum, das von der Stelle weg so begeistert davon gewesen wäre, dass es nach nichts anderem mehr verlangte. Stattdessen handelte es sich um einen sehr ambivalenten und schleichenden Prozess, bei dem ‚soft skills‘ eine viel größere Rolle spielten, als das Auftreten von Sprechblasen.«
So müssen die Katzenjammer Kids den Thron des ersten Comics mindestens teilen mit dem Yellow Kid, aber auch darüber erfahren Brauns Leser*innen mehr als genug – und später gibt es sogar noch Exkurse zu Wilhelm Busch und Pablo Picasso, der offenbar großer Fan der ersten, amerikanischen Comic-Strips in Serie war.
Alexander Braun und Tim Eckhorst: »Katzenjammer. The Katzenjammer Kids – Der älteste Comic der Welt«, Avant-Verlag, 472 Seiten, 59 Euro
Die Ausstellung »125 Jahre Katzenjammer Kids – Der älteste und längste Comic der Geschichte« ist bis 10. April im Dortmunder schauraum comic + cartoon zu sehen.