Johanna Reich macht sich Gedanken über die Zukunft der Wörter. Wie wird sich unsere Welt verändern, wenn KI unsere Sprachproduktion übernimmt? Um diese und ähnliche Fragen drehen sich die neuen Arbeiten der Künstlerin. So hat sie etwa eine eigene »Sprache der Bilder« entwickelt. Was sich dahinter verbirgt? Das beschreibt Reich im Atelier und zeigt es demnächst auch in einer Ausstellung im Museum Goch.
Immer wieder fanden sich in den letzten Jahren Gelegenheiten, im Atelier vorbeizuschauen. Man nimmt sie gerne wahr, denn mit Johanna Reich über neue Arbeiten oder Auftritte zu sprechen, ist jedes Mal anders, anregend, aufrüttelnd. Diesmal war die Neugier noch angefacht durch eine etwas mysteriöse Ankündigung: Die kommende Ausstellung im Museum Goch trage den Titel »Lumëndra«, heißt es da. Dieses Wort entstamme der von Reich entwickelten Sprache »Hynitha«. Von einer so geheimnisvollen Seite hatte man die Künstlerin bisher nicht kennengelernt.
Unmittelbar nach der Begrüßung im schönen, großen, neuen Atelier im Kölner Stadtteil Ehrenfeld kommt sie dann aber sehr schnell auf die Hintergründe zu sprechen: »Ich bin Synästhetikerin.« Seit der ersten Klasse wisse sie das. Auf die Frage, was denn das Besondere sei am eben erlernten Buchstaben K, habe sie der Lehrerin damals geantwortet: »Dass er so schön blau ist«. Deren Verärgerung konnte sie nicht verstehen. Doch zum Glück wusste ihre Mutter Bescheid und habe alles aufgeklärt.

Reich verbindet Buchstaben mit Farben, und wenn sie Farben sieht, hat sie Klänge dazu im Kopf. Hinzu kommt noch, dass alle Wörter und Sätze, die sie hört oder spricht, ihr als Schriftband vor Augen treten – wie Untertitel. Ihre Synästhesie habe sie bisher vor allem als Belastung empfunden. Ein Zuviel an Reizen: »Auf Messen zum Beispiel muss ich mich immer wieder zurückziehen.« Aus ihrer Kunst habe sie die Eigenheit bisher herausgehalten, nicht zuletzt, weil viele damit etwas Esoterisches verbinden würden.
Warum sie sich nun aufrafft, die unterdrückte Veranlagung positiv ummünzt und zum Ausgangspunkt einer ganzen Werkgruppe macht? Das hat auf jeden Fall sehr viel mit Reichs Beobachtungen, Fragen und Befürchtungen rund um die Sprache und ihre Zukunft zu tun. »Sprache formt das Denken, formt das Verständnis von unserer Welt«, so führt sie aus. Bisher sei die Sprache von Menschen entwickelt und verwendet worden. »Doch wie wird sich unsere Welt verändern, wenn KI unsere Sprachproduktion in allen Bereichen übernimmt und neue Sprachwelten entstehen?«, fragt sich Reich.
Als versöhnliche Antwort auf solche oft beängstigenden Fragen erscheint ihre eigene individuelle Sprache. Eine »Sprache der Bilder«, die sie in enger Kollaboration mit einer KI entwickelt hat – Individuum und Maschine schöpfen gemeinsam etwas Neues, Positives. Wie das funktioniert? Die Künstlerin kramt ein Blatt hervor, auf dem diversen Buchstaben und Kombinationen jeweils ein nuancierter Farbklecks zugeordnet ist – ihr persönliches, synästhetisches Farben-Alphabet. Neben dem großen M etwa sieht man ein kräftiges Rot. Königsblau ist das B, doch bei Bra wird es braun. C ist orange, h himmelblau, R fast schwarz. Auch ganze Wörter zeichnet Reich allein mit Farben auf, beschreibt dabei sogar die Intonation.
Mit diesen Buchstaben und Farben und Wortbildern fütterte die Künstlerin eine KI, die nun übersetzen kann: Farben und Bilder werden zu Buchstaben und Wörtern einer wohlklingenden Sprache, die Reich wiederum gemeinsam mit der KI schöpft. Und eine Grammatik gleich dazu. Es gebe kein Ich, auch kein weiblich und kein männlich, dafür aber zehn verschiedene Wörter für das Flüstern, die sie nun leise und deutlich zum Klingen bringt und erklärt: Zilarumè beschreibe ein zischendes Flüstern, Pörrüllü das Flüstern mit Lachen. Whimi ein Flüstern, das durch die Luft saust und Kylora ein vollmundig farbiges Flüstern.
Die Künstlerin als Dolmetscherin
Insgesamt hat die Künstlerin 1200 Begriffe in ihrem digitalen Wörterbuch hinterlegt. Das reicht der KI, um aus farbigen Großformaten Wörter und sogar Gedichte herauszulesen. Im Atelier hat sie den Testlauf gestartet für eine ihrer raumgreifenden Installationen, die sie in Goch präsentieren wird: Da leuchten unter kleinen Sandhügeln Schriftbänder hervor, Formulierungen einer KI, die mehrere großformatige Farbmalereien von Johanna Reich dichterisch in Worte fasst.
Interessanter noch wird es, wenn sie die Idee der Übersetzung weiterdreht: Die eine KI beschreibt eine Videoarbeit der Künstlerin und eine zweite macht aus der Beschreibung ein Bild, das nun aber völlig anders aussieht als das Original. Johanna Reich vergleicht es mit dem »Stille Post«-Prinzip und lässt Original und KI-Interpretation in einer Projektion wirkungsvoll ineinandergreifen.
Nun ist die Verwirrung komplett. Doch die Künstlerin bemüht sich um Klärung: Im Grunde gehe es in ihren Werken fast immer um Übertragungen. Da ist wohl etwas dran, wenn man genauer darüber nachdenkt und auch auf andere aktuelle Arbeiten schaut. Mal geht es um den Klimawandel, dessen Folgen sie in Fotoarbeiten übersetzt. Dann um den Begriff von Wahrheit im postfaktischen Zeitalter – veranschaulicht durch selbstfahrende Roboter, die, mit leuchtenden Schriftbändern bestückt, durch den Ausstellungsraum düsen. Oder Reich reflektiert die Idee der Demokratie und fasst sie in poetische Wörter, damit man ihr wieder näherkommen kann.
Die Künstlerin als Dolmetscherin, die es immer wieder versteht, weltbewegende Themen unserer Zeit in bewegende Kunstwerke zu übersetzen.
»Johanna Reich. Lumëndra – Der Ursprung der Zeichen«
Museum Goch
18. Mai bis 31. August