Nach 28 Jahren steht das Klavier-Festival Ruhr unter der neuen Leitung von Katrin Zagrosek. Sie setzt auf Kontinuität, hat aber auch Ideen zu Veränderungen – wie der Abschaffungen des Festival-Preises.
kultur.west: Frau Zagrosek, das Programmheft des Klavier-Festivals sieht jetzt anders aus, ist auf Recyclingpapier gedruckt und beginnt mit Portraits der Künstler*innen und Themen-Schwerpunkten. Welche weiteren Veränderungen konnten Sie in Ihrem ersten Jahr schon umsetzen?
ZAGROSEK: Bei einem Erfolgsprodukt, das nach so langer Zeit übergeben wird, ist mir erst einmal Kontinuität extrem wichtig. Es leben in der Region viele Fans des Festivals, ein großes Stammpublikum. Eines der wichtigsten Markenzeichen ist und bleibt, überregional und international hochkarätige und spannende Pianisten unserer Zeit einzuladen. Das bleibt bestehen, Veränderungen sollten evolutionär, nicht revolutionär vonstattengehen. Ich ziele darauf, etwas mehr Schwerpunktlinien im Programm aufzubauen und nicht über diese zehn, elf Wochen nur heute hier und morgen dort zu sein, wie in so einem Mosaik, die Künstler geben sich die Klinke in die Hand. Das wird ein Flächenfestival ohne eigentliches Zentrum natürlich immer mit sich bringen. Aber ich möchte dem Publikum auch einen Anlass bieten, öfter zu kommen und etwas zu entdecken, das sie vielleicht noch nicht kennen. So haben wir den Schwerpunkt zu Ferruccio Busoni, der viel für Klavier komponiert hat, aber Werke wie sein großes Klavierkonzert mit Orchester und Männerchor sind kaum bekannt. Wir führen es in einmaliger Konstellation auf.
kultur.west: Wollen Sie auch neue Spielstätten entdecken?
ZAGROSEK: Auf jeden Fall. Richtiges Neuland, musikalisch und vom Ort her, ist für uns zum Beispiel Gelsenkirchen-Ückendorf. Da sind wir in der Heilig-Kreuz-Kirche, die wirklich ein spannender Bau ist. Da geht es ausschließlich um die Verbindung von Klavier und Elektronik mit ganz unterschiedlichen Künstlern wie den Grandbrothers, Michael Wollny und Francesco Tristano oder der jungen Istanbuler Künstlerin Büşra Kayıkçı. Das ist sowohl eine Einladung an das reisende Publikum, Ückendorf zu entdecken, wie auch der Versuch, die vor Ort lebenden Menschen zum Klavier-Festival zu locken. Es ist richtig und wichtig, eine Vielfalt abzubilden, nicht nur, was die musikalischen Genres angeht, sondern auch in der Ansprache des Publikums.
kultur.west: Sie haben selber bisher vor allem im Klassik-Bereich gewirkt und treten in doppeltem Sinne in die Fußstapfen großer Männer: in die Ihres Vorgängers Franz Xaver Ohnesorg, aber auch in die Ihres Vaters Lothar Zagrosek, der als Dirigent auch in der Region kein Unbekannter ist.
ZAGROSEK:Ich bin tatsächlich in Solingen zur Welt gekommen, als mein Vater dort Generalmusikdirektor war. Die Frage meines beruflichen Verhältnisses zu ihm habe ich schon früh geklärt: Ich bin in der gleichen Branche tätig, habe durch ihn geprägte Neigungen wie die für die Musik, die es schwer hatte und hat, die verfemten Komponisten. Gleichzeitig bringe ich eigene Ansätze und Themen, über die ich mit ihm kaum diskutieren kann, weil unsere Sichtweisen sehr unterschiedlich sind – zum Beispiel auf Minimal Music. Und im Vergleich zu Franz Xaver Ohnesorg bin ich in jeder Hinsicht so anders: vom Alter her, vom Geschlecht her, von meiner Generation geprägt. Mir war immer klar, dass ich nicht wirklich verdächtig bin, seinen Weg 1:1 einzuschlagen. Gleichzeitig bewundere ich, was er aufgebaut hat. Es ist ein Erbe mit dem Auftrag, es zu erhalten und das bedeutet auch, es immer an die Zeit und neue Rahmenbedingungen anzupassen.
kultur.west: Das Festival wird bis heute zu 100 Prozent privat finanziert. Ging es bei der Übergabe auch um das große Netzwerk aus Unterstützer*innen?
ZAGROSEK:Das war ein ganz großer Teil – Know-How über das hohe mäzenatische Engagement zu erlangen. Es besteht aus vielerlei Beziehungen, die sehr persönlich geprägt sind. Diese aufzugreifen und auf meine Art weiterhin zu pflegen ist ein wichtiger Teil meiner Aufgabe. Es ist wichtig, dass die Besserverdienenden des Ruhrgebiets wissen, dass dieses international strahlende Festival ohne ihre Unterstützung nicht möglich wäre.
kultur.west: Was hat den Ausschlag für Sie gegeben, die Aufgabe zu übernehmen? Mit einem Blick auf Ihre Berufsbiographie hätte es ja auch ein Job in einer Metropole wie Hamburg oder Wien werden können.
ZAGROSEK:Der Education-Bereich war ein Punkt, bei dem ich gedacht habe, dass es sich lohnt, sich näher mit dem Festival zu beschäftigen. Klar wusste ich von den großen Namen und tollen Locations, aber mit dem Education-Programm hat Franz Xaver Ohnesorg eine Idee von den Berliner Philharmonikern mit hierher gebracht, wo es darum ging, die Kinder zu aktivieren, zu eigenen Gedanken anzuregen, sich über Musik auszudrücken – und nicht nur von einer in die andere Richtung zu vermitteln. Das ist gelungen und hier trifft der Begriff der Nachhaltigkeit wirklich einmal zu: Seit 2008, als das Projekt in Duisburg-Marxloh begonnen hat, machen wir das mit mehreren Personen, die dafür fest angestellt wurden. Wir sind zuverlässig und kontinuierlich jede Woche in Schulen in Marxloh und Bochum-Gerthe und neuerdings auch in der frühkindlichen Bildung in Kitas in Duisburg-Hochfeld tätig. In Marxloh schicken wir in alle fünf Schulen regelmäßig Tanzpädagogen und Musizierende, die meistens mit Lehrern im Tandem arbeiten. Wir stellen im Grunde genommen die kulturelle Bildung in mancher Schule. Darüber hinaus war das Ruhrgebiet, das ich vorher kaum kannte, auch von der Geschichte und den Spielstätten her sehr interessant für mich. Ich habe inzwischen meinen Lebensmittelpunkt nach Essen verlegt.
kultur.west: …und können jetzt mit dem Fahrrad ins Büro fahren.
ZAGROSEK: Genau. Die fünf Kilometer lege ich gerne mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurück.
kultur.west: Eine Zeitlang gab es prominente Namen als Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr und deren Stipendiaten. Wie gehen Sie mit dem Thema Nachwuchsförderung um?
ZAGROSEK:Anstelle des Preises nebst Stipendium geben wir dem Nachwuchs eine Bühne und einen eigenen Zeitraum und haben uns dazu entschieden, das unter der Überschrift »Youngsters« jeweils an vier Tagen um Fronleichnam und Christi Himmelfahrt als Reihe auf den Zechen Zollverein und Zollern zu akzentuieren. Ich lade da nicht ausschließlich Menschen ein, die im letzten Jahr einen großen Wettbewerb gewonnen haben, sondern schaue in einem etwas größeren Zeitrahmen auf ihre Karrieren. Da bin ich froh über eine schöne Auswahl: Wir haben zum Beispiel Nicolas Namoradze bekommen, der auch Neurowissenschaftler ist und mit dem Publikum über Wahrnehmung von Musik sprechen wird, bevor er Beethovens Hammerklaviersonate spielt. Oder Conrad Tao, ein chinesischstämmiger Amerikaner, der in bester US-Manier Rachmaninow mit Jazz-Standards und Broadway-Komponisten zusammenbringt.
kultur.west: Am Jazz-Schwerpunkt kann man gut ablesen, wie sie Kontinuität und Wandel zusammendenken…
ZAGROSEK: Tatsächlich ist beim Jazz kein Name dabei, der in den letzten Jahren schon zu Gast war. Das Festival eröffnen wird Emmet Cohen, der in Harlem lebt und mit seinem Trio zu uns kommt. Es gibt kaum jemanden, der mit so einer guten Laune und so einer entspannten und freudigen Stimmung musiziert. Ich kann mir keinen energiegeladeneren, frischeren Start wünschen, in dem übrigens auch die Schülerinnen und Schüler aus Duisburg-Marxloh einen Slot bekommen. Ich habe Emmet Cohen jetzt sehr oft gesehen und gehört – was übrigens jeder auch von Zuhause aus kann mit der Video-Reihe »Live from Emmet’s place«, die er während der Pandemie angefangen hat. Da hat er praktisch alle Jazzgrößen bei sich gehabt.
kultur.west: Größter Publikumsmagnet sind trotzdem weiter die großen klassischen Pianist*innen. Kommen die allein wegen des weltweiten Rufs des Klavier-Festivals in Scharen?
ZAGROSEK:Je einsamer die Spitze ist, in der sich die Künstler bewegen, gibt es schon auch mehr Hürden, allein vom Honorar her oder den Managements, die bestimmte Ziele verfolgen. Aber Stand heute kann man sagen: Wer in 2024 als großer Pianist gilt, war auch schon hier bei uns. Nicht alle sind unbedingt regelmäßige Stammkunden: Yuja Wang hätte ich zum Beispiel gerne öfter hier, das ist länger her, dass sie da war. Das Festival genießt einen sehr guten Ruf, daran knüpfe ich an und trete in Kontakt und den Austausch mit den Künstlern. Was so dieses Jahr schon gelungen ist, finde ich einfach toll: Zum Beispiel das Konzert von Marc-André Hamelin mit dem Sinfonieorchester Wuppertal und Mitgliedern der Chorakademie Dortmund. Das ist großartig, wie bei diesem Projekt das lokal Beste mit dem Besten, das wir als Festival bringen können – den internationalen Stars des Klaviers –, zusammenkommt.
Zur Person
Katrin Zagrosek, geboren 1975 in Solingen, wirkte nach ihrem Studium der Musik- und Kulturwissenschaften als freischaffende Mitarbeiterin bei international bekannten Kulturinstitutionen und Festivals wie den Berliner Festwochen, dem Pariser Théâtre et Musique und dem Lincoln Center Festival in New York. Zwischen 2002 und 2006 gestaltete sie am Theater Freiburg die Konzertreihen des Philharmonischen Orchesters und entwickelte neue musikpädagogische Formate für Kinder und Jugendliche. Als Projektleiterin der »Hamburger Ostertöne« prägte sie bis 2012 die Programmkonzeption des Festivals. 2012 wurde sie Intendantin der Niedersächsischen Musiktage, seit 2024 ist sie Intendantin und Geschäftsführerin des Klavier-Festivals Ruhr.
Klavier-Festival Ruhr
Das erste Klavier-Festival Ruhr unter der Leitung von Katrin Zagrosek findet vom 26. April bis 16. Juli 2024 in 17 Städten zwischen Rhein und Ruhr statt. Zu 66 Konzerten hat die neue Intendantin 67 Pianist*innen aus 34 Nationen eingeladen.