In drei Ausstellungen in Düsseldorf, Duisburg und Dortmund ist erlaubt, was sonst verboten ist: Werke auch mit dem Tastsinn zu erkunden. Eine erstaunliche Erfahrung, die man nicht mehr missen möchte.
In der hiesigen Museumswelt ist bis heute ein kaum hinterfragter Glaubenssatz, dass Kunstwerke potentiell für die Ewigkeit konserviert werden sollten. Deshalb darf man sie in den allermeisten bloß anschauen – Berühren ist streng verboten. Es ist aber ganz und gar erstaunlich, was passiert, wenn man die Grenze zur Kunst-Wahrnehmung mit dem Tastsinn einmal übertreten darf. Das ist gerade an mehreren Stellen in NRW möglich.
Um die Regel des Nicht-Berührens der Kunst einzuhalten, ist im Museum meistens sogar Wachpersonal anwesend, das den Besucher*innen auf leisen Sohlen hinterher schleicht, den Sinn und Zweck seiner Präsenz aber unverhohlen preisgibt, wenn man den Werken einmal zu nahe kommt. Im Untergeschoss des Lehmbruck Museums Duisburg ist das momentan anders. Da erklärt die Museumswärterin nur kurz, wo die dünnen, weißen Stoffhandschuhe zu finden sind, mit denen man die Kunst berühren darf.
»Shape! Körper + Form begreifen« heißt die Ausstellung, die sich von ihrem Konzept her zwar zuerst an Kinder und Jugendliche richtet. »Das Erleben als auch das Rezipieren unterschiedlicher Körperformen und -größen können aber auch Erwachsenen dabei helfen, ein positives Körperbild zu entwickeln«, verkündet das Museum. In einem komplett verdunkelten Raum ist zudem eine verdeckte, liegende Skulptur ausgestellt. Man darf sie spielerisch ertasten und sich allein durch die erfühlte Wahrnehmung ein Bild machen – das man am Ende an der Kasse mit einer Fotografie des Werks abgleichen kann. Es ist Rico Webers »Ich liege, wo ich liegen möchte.«
Auch Erwachsene merken in der Ausstellung allerdings schnell, dass nicht nur Kindern das spielerische Erkunden der Skulptur im menschlichen Maßstab Spaß macht und ein gutes Stück weg bringt von der zuallererst auf visuelle Reize ausgerichteten Welt. Nach vorsichtigen, fast schüchternen Berührungen der kleinen Bronzen von Gerd Ewel, Gustav Seitz und Norbert Kricke, die zwischen 1949 und 1961 entstanden sind, wird schnell klar, was für einen riesigen Unterschied diese Kunsterfahrung macht – tatsächlich einen Quantensprung!
Man kennt das aus Liebesbeziehungen: Oft verguckt man sich in einen Menschen, das Bild lebt in der Vorstellung, zieht uns an – aber der Realitätsabgleich geschieht erst bei der Begegnung mit allen Sinnen. Dabei spielt die Berührung vielleicht die größte Rolle. Wir legen eine mentale Landkarte des anderen Körpers an, wissen intuitiv, welche Rundungen und Wölbungen, welche Anmutung von Haut und Haaren uns gefallen. So ähnlich ist es jetzt in der Duisburger Ausstellung. Zum visuellen Reiz kommt Berührungserfahrung, die das Kunsterlebnis noch einmal ganz neu und anders im Körper speichert.
Schüchtern oder hemmungslos?
Eine Skulptur bleibt dann nicht mehr nur als Bild, sondern auch als Landkarte, als Topographie im Gedächtnis haften. Hier geht es hoch, da geht es runter und um die Ecke, da gibt es eine lange Kurve. Wenn die Skulpturen menschliche Körper abbilden, zudem noch nackte, kommt tatsächlich auch eine Scheu in der Berührung auf: Darf ich jetzt hemmungslos über die Genitalien streichen?
Besonders interessant ist die Erfahrung mit verschiedenen abgebildeten Körperhaltungen: In Anni Spetzler-Proschwitz »Sitzender Knabe« (1927) drückt sich so viel Leid oder Ermattung aus, dass man der Skulptur unweigerlich über den Kopf streichelt – wie zur Aufmunterung. Das würde man gern auch einmal mit den sitzenden Jüngling von Wilhelm Lehmbruck machen, aber der gehört nicht zur Schau.
Vom Namensgeber des Museums ist nur der »Hagener Torso« von 1910 hinter Glas ausgestellt. Berühren darf man allerdings die Gussform, in der die Bronze gegossen wurde, aber auch das ist ein erstaunliches Erlebnis: Man spürt quasi wie im Negativ, wo die Brust in den Rippenvorsprung übergeht, spürt den Bauchnabel als kleinen Hügel, spürt die Arbeit hinter der Kunst, von der man sonst nur das Ergebnis sieht.
Spannend ist in Duisburg zudem, verschiedene Materialien zu erkunden: Die Bronzen sind glatt und kühl. Polyester wirkt leicht, weniger substanziell. Ton kann rau und wild und mit Glasur geglättet und spitz daher kommen. Nach diesem Ausstellungsbesuch ist klar: Es wird nie wieder genügen, Kunst nur anzuschauen. Zumindest wird sich oft der Wunsch melden, doch einmal ihre Haptik zu erfühlen. Gut, dass das in NRW noch an anderer Stelle möglich ist.
Mit Tony Cragg hat im Düsseldorfer Kunstpalast einer der berühmtesten Skulpturen-Künstler der Gegenwart quasi sein Atelier für die Besucher geöffnet und das Berühren erlaubt. Die Ausstellung, an deren Ende tatsächlich sein Atelier mit vielen unfertigen Arbeiten aufgebaut ist, heißt »Please touch!« Der Künstler selbst erklärt in einem Video-Interview im ersten Raum: »Ich selbst habe die Arbeiten natürlich in den Händen, weil ich sie erschaffe, weil ich das Material, von dem ich ausgehe, verändere und bearbeite. Ist eine Arbeit fertig, verspüre ich selbst nicht mehr das Bedürfnis, sie anzufassen.«
Doch es wird kaum Besucher*innen geben, denen das auch so geht, vor allem, wenn sie gerade aus dem Lehmbruck Museum kommen. Sind in Duisburg vor allem figürliche Arbeiten verschiedener Künstler aus dem 20. und 21. Jahrhundert zu sehen, sind es in Düsseldorf ausschließlich jüngere, meist abstrakte Werke des Zeitgenossen Tony Cragg. Fast alle haben zudem einen übermenschlichen Maßstab, so dass man sich ihnen ganz anders nähert. Die Scheu bezieht sich hier nicht darauf, zierliche menschliche Gestalten zu berühren, sondern auf die Frage, ob man die großen, oft verschlungenen, abstrakten Formen überhaupt erfassen wird, vielleicht sogar eine Art tieferes Verständnis entwickeln, wenn ein zusätzlicher Sinn dazu kommt.
Sehnsucht nach Kunst-Berührung
In den ersten Räumen von »Please touch!« ist es oft mehr ein Klopfen als ein Berühren, mit dem die Menschen der Kunst begegnen. In der Bronze »Temple« von 2016 beginnt man aber irgendwann auch die Höhlungen zu erkunden. Ist vielleicht das menschliche Herz Vorbild gewesen? Vorher hat man schon am »Stone Head« (2019) Höhlen aus Kristall erspürt. Erstaunlich ist die Materialvielfalt, mit der Tony Cragg arbeitet. Es gibt spiegelnden Edelstahl, Holz, Glasbausteine, Plastik-Spielwürfel, Bronze, Gusseisen. In einem Werk hat er einen Baum aus Fingern und Händen verschiedener Größe gestaltet, denen ein Laserscan seiner eigenen Hand Vorbild stand. Diese nun zu berühren ist eine besonders starke Erfahrung.
Da in der Düsseldorfer Ausstellung sogar die Berührung ohne Handschuhe erlaubt ist, sind besonders auf den glatten Metall-Flächen schon Spuren der Besucher*innen zu sehen und fühlen. Manchmal fährt man über klebrige Stellen und wünscht sich insgeheim, auch hier wären dünne Stoffhandschuhe Pflicht. Es ergibt absolut Sinn, dass das Museum informiert: »Die gezeigten Skulpturen stammen direkt vom Künstler und werden im Anschluss an die Ausstellung durch Tony Cragg überarbeitet.« Denn auch hier wird von der Hauptregel der Kunstwelt natürlich nicht wirklich abgerückt: Im Prinzip sind diese Skulpturen für die Ewigkeit gemacht.
Dass die Sehnsucht nach Kunst-Berührung nicht ganz neu ist, weiß man in Düsseldorf, wo Zeitzeugen berichten, dass es 1950 in der im Kunstpalast gezeigten Henry-Moore-Ausstellung wohl schon einmal erlaubt war, einige Skulpturen zu berühren. Man weiß es allerdings auch im Dortmunder Museum Ostwall, wo zum 75-jährigen Jubiläum am 21. April die Ausstellung »Kopfüber in die Kunst« eröffnet. Die Kuratoren haben sich mit der Geschichte des Museums beschäftigt und dabei immersive Installationen aus einer Zeit gefunden, lange bevor der Begriff Mode wurde.
In Ferdinand Spindels »Schaumraum« von 1969 ist ein Raum im Raum zu erleben, den man mit allen Sinnen, also vor allem auch mit dem Tastsinn, erleben darf: Schaumstoff breitete sich darin wellenförmig aus. Es hat etwas gemütliches, aber wirkt auch, als hätte das Werk ein Eigen- oder Innenleben zwischen seinen Höhlen und Podesten. »Man kann durch den Raum gehen oder sich hemmungslos gemütlich hinfläzen und verschiedene Perspektiven einnehmen«, sagt Kuratorin Viktoria von Pidoll.
Neben den historischen Berührungs-Installationen gibt es auch zeitgenössische Positionen wie Soundinstallationen oder Bilder, durch die man hindurch gehen kann. »Auch Räume können einen auratische Wirkung haben«, sagt die Kuratorin. »Immersion gab es schon immer – die Verbindung aus Kunst, Bildern, Skulpturen und Architektur.« Auch die neuste Mode in der Kunst ist also eigentlich eine Wiederentdeckung.
Shape! Körper + Form begreifen
bis 1. September, Lehmbruck Museum Duisburg
Tony Cragg. Please Touch!
bis 26. Mai, Kunstpalast Düsseldorf
Kopfüber in die Kunst
21. April bis 25. August, Dortmunder U