»Das wird eine Omnibus-Ausstellung« – so lautet die erste Antwort, wenn man Heinrich Theodor Grütter nach dem Konzept der Ausstellung »Unser Land. 75 Jahre Nordrhein-Westfalen« fragt. Damit ist keine Leistungsschau des öffentlichen Nahverkehrs gemeint, sondern die Art und Weise, wie die Geschichte dieses Bundeslandes erzählt werden soll. Nämlich niederschwellig, für alle Bevölkerungsgruppen, nicht nur für Spezialist*innen und Kulturinteressierte, betont der Historiker, Direktor des Essener Ruhr Museums und Mitglied der Stiftung Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen. Wie bei jeder anständigen Blockbuster-Ausstellung sollen auch hier die Busse aus ganz NRW das Publikum in die Landeshauptstadt bringen.
Das große Ziel der Stiftung liegt noch einige Jahre in der Zukunft – ein dauerhaftes Haus der Geschichte, das sich thematisch ausschließlich mit der historischen Entwicklung Nordrhein-Westfalens beschäftigt. Die bundesrepublikanische Variante kann man bereits seit 1994 auf der Bonner Museumsmeile im ehemaligen Regierungsviertel besuchen, auf der Ebene der Bundesländer sind es bisher nur Bayern und Baden-Württemberg mit Regensburg und Stuttgart, die über eigene Häuser der Geschichte verfügen. In NRW wurde der Plan für ein Haus der Geschichte überparteilich von Landesregierung und Landtag getroffen – ab 2026 soll die Institution im historischen Behrens-Bau direkt an der Düsseldorfer Rheinuferpromenade neben der Staatskanzlei eröffnet werden.
Ein Gebäude mit Geschichte, 1910 von Peter Behrens für die Mannesmann-Röhrenwerke AG entworfen, unter Fachleuten ein bedeutendes Beispiel der deutschen Reformarchitektur. Der massive Bau gehörte zum sprichwörtlichen »Schreibtisch des Ruhrgebietes«, hier befand sich die Verwaltung und das Kapital dessen, was einige Kilometer weiter in der Industrieregion produziert wurde. Nach dem Verkauf Mannesmanns nutzte Vodafone das Gebäude, dann war es zeitweilig eine Flüchtlingsunterkunft, nun haben Bauarbeiter*innen für die Ausstellung schon mal die erste Etage rund um den großen Lichthof entkernt und umgebaut.
Bedauerlicherweise wird Nordrhein-Westfalen ein paar Jahre zu früh 75 Jahre alt, deswegen wagt man mit »Unser Land« einen ersten und frühen Aufschlag. Etwa ein Jahr hatten Grütter und seine Kolleg*innen Zeit, die Schau konzipieren und die Masse an zeitgeschichtlichem Material zu bewältigen. Sie stellten sich die Frage, was die großen »Herausforderungen« für das Land in den letzten Jahrzehnten waren. Daraus wurden 30 ausgesucht und in acht gesellschaftliche Themenbereiche gegliedert: Politik, Migration, Soziales, Wirtschaft, Strukturwandel, Sicherheit, Religion sowie Kultur und Medien.
Erzählt werden die Geschichten anhand von besonderen Objekten und Exponaten – eine ähnliche Konzeption wie im Bonner Haus der Geschichte oder im Ruhr Museum auf dem Welterbe Zollverein. Grütter hat als Museumsdirektor Erfahrung mit dieser Art der Präsentation und Geschichtsvermittlung. Wichtig ist ihm dabei, dass die Exponate echt sind und durch die Erzählung eine besondere Bedeutung, eine »Aura« bekommen. »Es geht um Erinnerungen« präzisiert Grütter das Konzept. Wie das knallgelbe Opel-Blitz-Logo, das jahrzehntelang auf dem Bochumer Opelwerk leuchtete, oder der fransig-abgeliebte und strickbehoste Teddybär, mit dem die ehemalige Besitzerin als dreijähriges Mädchen 1947 von Dresden nach Nordrhein-Westfalen geflohen war.
Natürlich ist die Gründung des Landes Thema, das Formen eines Staates, der vorher so nicht existierte und gleich drei unterschiedliche Regionen zusammenführte. Zwar gab es schon in der Weimarer Zeit erste Ideen, im Ruhrgebiet Rheinland und Westfalen zu verbinden, konkrete Umsetzung fand das Ganze aber erst nach dem Krieg. Ein Bundesland mit Bindestrich in der Mitte des künftigen, zusammenwachsenden Europas. So ist dann in der Ausstellung auch das Original des Vertrages der Montanunion von 1951 zu sehen, im Prinzip der inoffizielle Gründungsvertrag der EU. Unterzeichnet von Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxländern, die sich so verpflichteten, nicht mehr gegeneinander Krieg zu führen sondern lieber mit Stahl zu handeln.
Im sozialen Bereich ist der Schreibtisch von Hans Böckler Teil der Ausstellung, dem ersten Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), für den Bereich Sicherheit steht unter anderem die historische »Dahlbusch-Bombe«, eine Stahlkapsel, mit der 1955 in Gelsenkirchen drei Bergleute nach einem Grubenunglück ans Tageslicht geholt wurden. Aus dem Auswärtigem Amt stammt als Leihgabe das Originaldokument des Abkommens zwischen Deutschland und der Türkei, um »Gastarbeiter*innen« anzuwerben, das 1961 in Bad Godesberg unterzeichnet wurde. Außerdem sind der Bischofsstab und der Kohlering von Bischof Hengsbach erstmals außerhalb des Essener Domschatzes zu sehen. 500 Objekte, 50 Medienstationen, zahlreiche Fotografien, Zeitzeug*inneninterviews und viel Filmmaterial des Partners WDR.
Ob und wie sich das alles tatsächlich zu einem großen Panorama Nordrhein-Westfalens zusammenfügt, wird man ab Ende August bei freiem Eintritt in Düsseldorf sehen. Ab Mitte nächsten Jahres wird die Schau dann zu einer Wanderausstellung umkonzeptioniert, die in allen 53 Kommunen des Landes Station machen und vier Jahre lang die Brücke zwischen Jubiläum und der Eröffnung des Haus der Geschichte bilden soll. So sollen sich auch die Bürger*innen Ostwestfalens, der Regionen Lippe und Eifel, des Sauer- und Münsterlands in der großen Erzählung des Bundeslandes integriert und aufgehoben fühlen, bevor man dann ab 2026 dann wieder ins Rheinische fahren muss. Etwa mit dem Omnibus.
26. August 2021 bis 23. Mai 2022