Elwood bekommt Weihnachten 1962 »das schönste Geschenk seines Lebens«: das Album »Martin Luther at Zion Hill« mit Reden des 1968 in Memphis erschossenen Predigers, Propheten, Bürgerrechtlers und afroamerikanischen Gandhi. Zion – ein anderes Wort für Jerusalem, die ersehnte Stadt, das Paradies auf Erden, die Erlösung. Der Kampf gegen den mörderischen Hass und Rassismus der Weißen, besonders im Süden der USA, ist ohne den Geist der Bergpredigt, die Gewissheit an die feste Burg Gott und Demut nicht denkbar.
Der Prolog von Colson Whiteheads »Die Nickel Boys« führt auf einen Friedhof. Studenten der University of Tampa in Florida graben Gebeine aus, darunter solche, die kein Register führt und deren Todesursachen Schlimmstes vermuten lassen. Der erschütternde Roman ist ein Dokument von Gewaltverbrechen an farbigen Kindern und Jugendlichen in einer Besserungsanstalt, eine Archäologie der Schmerzen und Soziologie über eine Welt der Rechtlosigkeit – ist Mahnmal und Appell, dass »das Schicksal der Neger das Schicksal des Landes« unter dem Sternenbanner ist, wie James Baldwin schreibt.
Durch Zufall, der ohne Sinn ist für das Böse in ihm, wird Elwood, der bei seiner Großmutter Harriet in Tallahassee lebt und unterwegs ist, um Seminare an einem nahen College zu besuchen, von der Polizei aufgegriffen und unschuldig verurteilt zur Besserungsanstalt Nickel. Elwood – klug, zäh, ernsthaft, strebsam und in seiner Seele überzeugt vom Gefühl der Würde in ihm, das ihn bereit macht, zu helfen – hofft, indem er sich »korrekt« verhält, »genau hinschaut, nachdenkt und plant« die Zeit durchzustehen. Zu überleben.
Whiteheads kurze Lebensgeschichte eines jungen Menschen, neben und hinter dem sein Freund Turner und andere stehen, ist die in 16 Kapiteln erzählte Chronik des Alltags in Nickel. Er besteht aus Gleichgültigkeit, Gemeinheit, Willkür, Korruption, Ausbeutung, sexueller Gewalt und kafkaesker Folter. Viele Sätze möchte man unterstreichen, Sätze wie diesen: »Hier drin ist es genauso wie draußen, nur muss hier keiner mehr so tun als ob.« Whitehead schreibt mit gezügelter Emphase. Man spürt seinen gerechten Zorn über eine unvergangene Vergangenheit, die noch Gegenwart ist und in der Generationen der Zukunft zugrunde gerichtet werden. AWI
Colson Whitehead, »Die Nickel Boys«, aus dem Englischen von Henning Ahrens, Carl Hanser Verlag, 223 Seiten, 23 Euro
Lesung am 20. Oktober im Kölner WDR Funkhaus am Wallraffplatz (Klaus-von-Bismarck-Saal) im Rahmen der lit.COLOGNE