Cindy Shermans erste große Soloshow in Belgien, präsentiert im FOMU in Antwerpen, ist die ideale Ergänzung zum Ausstellungsprogramm rund um den 75. Todestag von James Ensor. Den flämischen Maler und die US-Fotokünstlerin verbindet manches – etwa die Vorliebe für Masken und Morbides.
Cindy Sherman liebt Verwandlungen. Seit Mitte der 70er Jahre ist die amerikanische Künstlerin vor ihrer Kamera in derart viele Rollen geschlüpft, dass sie die Wandlungsfähigkeit jedes Schauspielers in den Schatten stellt. Mit Make-up, Prothesen, Perücken und Kostümen mimte sie Filmstars, Models, Schickeria-Ladys oder berühmte Figuren der Kunstgeschichte. Zum Repertoire der Selbstdarstellerin, die sich in ihren Bildern bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, gehören auch Clowns – ihnen widmete sie 2003 sogar eine Serie, von der jetzt einige Beispiele in der »Anti-Fashion«-Ausstellung des Antwerpener Fotografie-Museums vertreten sind.
Obwohl uns die Künstlerin im Clownskostüm auf einigen Arbeiten (wie alle Werke bloß mit »Untitled« und einer fortlaufenden Nummer tituliert) anstrahlt, was das Zeug hält, mag uneingeschränkte Heiterkeit bei der Betrachtung nicht aufkommen. Zu abgründig, zu doppelbödig erscheinen die Protagonist*innen der Serie. Das Tragische der Clownsrolle hat auch James Ensor in mehreren Bildern ausgelotet – beispielsweise in den Gemälden »Pierrot und Skelette« (1905) und »Die verwirrten Masken« (1930).
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Künstlerpersönlichkeiten, die man bei oberflächlicher Betrachtung in völlig unterschiedlichen Welten verorten würde. Doch treten viele Merkmale, die uns in der Malerei von James Ensor (1860-1949) begegnen, in verwandelter Form auch in den Fotoinszenierungen Shermans auf. Man denke an beider Vorliebe für Maskeraden und Morbides. Oder an den Hang zu Horror und Obszönem. Um es grundsätzlich zu formulieren: Sowohl James Ensor als auch Cindy Sherman erinnern an Regisseur*innen, die das Bild als eine kunterbunt-krasse Bühne auffassen, wo extreme Charaktere aufeinanderprallen.
Die FOMU-Ausstellung »Anti-Fashion«, die zuvor in der Staatsgalerie Stuttgart und in den Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg in Hamburg gezeigt wurde, bietet hierfür Anschauungsstoff aus fünf Jahrzehnten. Im Mittelpunkt steht Shermans Interesse an der Mode, der sie in einer Art Hassliebe verbunden ist. Als Fashionista ist sie auch beteiligt an der parallellaufenden Ausstellung »Maskerade, Make-up & Ensor«, die das MoMu zeigt. Eine von vier Ausstellungen, mit denen Antwerpen das Ensor-Jubiläum beschließt.
Kleider machen eben Leute – bei Sherman wird daraus Fotokunst. Seit den 80er Jahren hat sie regelmäßig mit Modehäusern wie Comme des Garçons, John Galliano und Balenciaga zusammengearbeitet und deren Kollektionen durch den Nimbus der berühmten Künstlerin geadelt. Ihre Fotografien, die den glamourösen Look der Modeaufnahmen auf den Kopf stellen, erschienen in Zeitschriften wie Vogue, Interview und Harper’s Bazaar.
Das Interesse an Mode machte sich schon bemerkbar, als die junge Cindy Sherman 1972 bis 1976 am Buffalo State College im Bundesstaat New York Fotografie und Film studierte. 1975 drehte sie den kurzen 16-Millimeter-Film »Doll Clothes« – er ist nun auch Teil der Ausstellung im MoMu. Sherman, schon damals die einzige Protagonistin ihrer Kunst, erscheint in dem SW-Streifen als kleine Papierpuppe, die verschiedene Outfits ausprobiert.
»Doll Clothes« ist Teil der Kabinettschau »Early Works, 1975-1980«, die in Antwerpen als Ouvertüre der »Anti-Fashion«-Schau mit ihren monumentalen Formaten vorgeschaltet ist. Ein aufschlussreicher Blick auf die Anfänge von Sherman, möglich dank der Leihgaben der Wiener Verbund Collection. Hier, im Erdgeschoss des Modemuseums, stößt man auch auf Beispiele jener Serie, mit der die Künstlerin den Durchbruch schaffte: In ihren »Untitled Film Stills« (1977-1980) tritt uns Sherman in verschiedenen fiktiven Filmrollen entgegen. Wie in vielen Bildern James Ensors, die keine eindeutige Lesart haben, sondern zu unterschiedlichen Deutungen einladen, appellieren auch die »Untitled Film Stills« an den Betrachter, das Kunstwerk mit einer eigenen Geschichte im Kopf zu vollenden. Inspiriert sind diese Schwarz-Weiß-Fotografien von der Filmsprache der 50er Jahre, vor allem vom amerikanischen Film noir und dem italienischen Neorealismus.
Noch mehr Parallelen und Korrespondenzen zu James Ensors »Theater der Masken« (so der Titel eines Gemäldes von 1908) bieten die späteren Serien Shermans, beispielsweise »Balenciaga« von 2007. Bei dieser Fotofolge, entstanden im Auftrag von Vogue Paris, verkehrte sie den »diskreten Charme der Bourgeoisie«, den der Film von Luis Buñuel im Titel ironisch beschwört, ins glatte Gegenteil. Sherman – teils solo, teils doppelt ins Bild gebracht – nahm an jenen potenziell älteren Society-Damen Maß, die bei Gala-Veranstaltungen und Promi-Partys um Aufmerksamkeit wetteifern. Mit grellem Make-up, riesigen Designerbrillen und auffälligen »Statement-Kleidungsstücken« beschwört sie einen Jahrmarkt der Eitelkeit, den auch Ensor als Biotop seiner Kunst schätzte – etwa in den Porträts seiner eleganten Muse Augusta Boogaerts oder in dem Gemälde »Modische Frauen«.
In ihrer Serie »Landscapes« (2010-2012), erschienen als Beilage im Modemagazin Pop, zitierte Cindy Sherman historische Haute Couture, die sie im Archiv des Modehauses Chanel aufgespürt hatte. Ungewöhnlich hier, dass sie den Laufsteg ins Freie verlegt: Den Hintergrund der digital bearbeiteten Montagen bilden Landschaften verschiedener Inseln, darunter Capri, Island oder Stromboli. »Harper’s Bazaar«, 2016 als limitierte Sammlerausgabe für das gleichnamige Magazin veröffentlicht, kombiniert hippe Designerkleider mit Kulissen, die teils der Natur, teils dem urbanen Raum entlehnt sind.
Schlüpft Cindy Sherman beim überwiegenden Teil ihrer Arbeiten unter den Deckmantel einer wesensfremden weiblichen Identität, so wechselt die jüngste Serie, die das FOMU präsentiert, ins männliche Lager. Der Anlass für »Men« (2019-2020) ist Stella McCartneys erste Herrenkollektion, die 2017 bei einer Modenschau in London vorgestellt wurde. In den zehn großformatigen Fotografien tritt uns die Künstlerin in einem Habitus entgegen, der jede Macho-Pose vermeidet und fast schon genderneutral daherkommt. »Wann ist ein Mann ein Mann?«: Herbert Grönemeyers zum geflügelten Wort gewordene Frage stellt Cindy Sherman im Medium der Kunst. Damit trifft sie ins Schwarze des aktuellen Kunstdiskurses, der immer stärker um Diversität kreist.
»Cindy Sherman – Anti-Fashion«, FOMU, Antwerpen, bis 2. Februar 2025