Hochkochende Emotionen und skurrile Gestalten bestimmen das Romandebüt der Musikerin Charlotte Brandi. Auf der Suche nach ihrem vermissten Bruder entdeckt die Protagonistin Ella unterschiedlichste Milieus in Dortmund. »Fischtage«, so der Titel des Buches, ist eine Coming-of-Age-Geschichte als Roadtrip zu Fuß.
Die 16-jährige Ella stellt sich den Lesenden zuerst anhand ihrer Wutanfälle vor. Sie brechen unkontrolliert aus ihr heraus, da hilft lange Zeit nur eines: Laufen. Dann verletzt sich Ella am Bein, und ein neues Ventil muss her. Ihre Eltern schicken sie in Therapie, unternehmen ansonsten aber kaum Versuche, sie zu unterstützen. Die Therapie sieht Ella als »Alibi« und resümiert: »Am Ende sind wir Dortmunder: Niemand erwartet hier ernsthaft eine Verbesserung von irgendwas durch irgendwas.« Ella beschreibt ihre Eltern als »Junkies«, der Vater ist in ihren Worten ein »abgehalfterter Schauspieler, Endstation Kindertheater«, die Mutter eine »überkandidelte Galeristin mit einem Drogenproblem«. Als ihr jüngerer Bruder Luis verschwindet, erträgt Ella es zuhause nicht mehr und zieht kurzerhand in die Schrebergartenlaube ihres dementen Ersatz-Opas. Von dort aus will sie die Suche nach Luis selbst in die Hand nehmen.

Brandi nutzt die ersten Kapitel für eine Charakterisierung des Settings, in dem Ella aufwächst, und deren Sicht auf die Dinge. Die Erzählerin schlägt einen durchweg direkten Ton an, teilt Lesenden etwa mit, warum sie welcher Figur an dieser Stelle mehr oder weniger Platz einräumt. Mit fortschreitender Suche tauchen allerhand zwielichtige und hilfsbereite, unangenehme oder sympathische Gestalten auf, mit denen die Protagonistin sich auseinandersetzt. Es bleibt auch kurzweilig dank philosophisch-analytischer Passagen aus der abgeklärten Sicht der Jugendlichen: »Das gesamte Ruhrgebiet hat ja einen herben Minderwertigkeitskomplex, und wenn du den hast, zuckst du auf alles, was dir schmeichelt, schätz ich mal.« Mit solchen Sätzen fängt Brandi treffend die bissige Schonungslosigkeit ein, mit der Teenager über ihre Mitmenschen sprechen können.
Wer nun aber eine aus dem Alltag gegriffene Geschichte erwartet, täuscht sich: Als Sidekick dichtet die Autorin ihrer Protagonistin einen sprechenden Plastikfisch an, den diese in der Gartenlaube findet. Nachdem er sich als Alarmgeber in Gefahrensituationen als nützlich erwiesen hat, schleppt Ella ihn fortan in einer Aldi-Tüte durch Dortmund. Sobald man sich auf dieses fantastische Element im ansonsten realistisch gehaltenen Roman einlässt, entwickelt das fortlaufende Zwiegespräch zwischen den beiden seinen Reiz. Ellas Abenteuer sind tatsächlich fast noch absurder als der Fakt, dass sie sie mit einem Fisch bespricht.
Im Roman geht es nicht nur um die Suche nach dem Bruder, sondern ebenso um die Suche nach dem eigenen Umgang mit der Welt. Die thematisierten Abgründe – Suchtprobleme, Demenz, sexuelle Übergriffe, Desinteresse der Erwachsenen, um nur einige zu nennen – sind ernst und tiefgreifend. Die Teenager-Perspektive bleibt distanziert und humorvoll, denn der Roman gönnt der Erzählerin keine Pause, um Erlebtes zu verarbeiten. Auch wenn sich das als atemloser Ritt durch die Emotionen in diesem Alter lesen lässt, hätte der Roman hier weiter in die Tiefe gehen können. Die behutsame Reifung der Protagonistin entlang der Episoden tröstet nur bedingt darüber hinweg, dass manche Themen ohne Einordnung im nächsten Kapitel schon nicht mehr relevant sind. Auch die überraschend versöhnliche Auflösung bleibt an der Oberfläche. Dennoch ist der Roman unterhaltsam und bietet eine frische Perspektive auf die innere Zerrissenheit einer Protagonistin, die sich von allen verlassen fühlt.
28. Juni, Mülheim an der Ruhr, Theater an der Ruhr (Lesung und Konzert)
30. September, Düsseldorf, Zakk
Charlotte Brandi: »Fischtage«, park x ullstein, 304 Seiten, 23 Euro