Armen Hakobyan, Co-Intendant des Essener Aalto Balletts, choreografiert Victor Hugos historischen Roman »Der Glöckner von Notre-Dame«. In seiner opulent ausgestatteten Uraufführung fokussiert er auf das Außenseitertum – und das Menschsein in seinen Widersprüchen.
Als er ein Kind war, sah Armen Hakobyan zusammen mit dem Großvater in seiner armenischen Heimatstadt Eriwan einen Film, dessen Bilder sich in sein Gedächtnis brannten. »Der Schwarz-Weiß-Fernseher allein – das hatte schon etwas Magisches«, erinnert sich der Co-Intendant des Aalto Balletts. Es lief »Der Glöckner von Notre-Dame« mit Anthony Quinn und Gina Lollobrigida von 1956. Zunächst machte Quasimodo dem kleinen Jungen von etwa acht Jahren Angst. »Aber je länger ich zugeschaut habe, desto mehr hat sich mein Blick verändert. Irgendwann habe ich das Kind in ihm gesehen – einsam, verletzt, voller Sehnsucht nach Nähe.« Und plötzlich, erzählt der neue Hauschoreograf, sei da keine Angst mehr gewesen, sondern Mitgefühl: »Ich habe seine Deformation gar nicht mehr wahrgenommen, sondern nur noch den Menschen dahinter.«
Vor einem Jahr hat Hakobyan zusammen mit Marek Tuma die Nachfolge des langjährigen Ballettintendanten Ben van Cauwenbergh übernommen. »Der Glöckner von Notre-Dame« ist sein erstes abendfüllendes Handlungsballett. Er will darin von Liebe, Ausgrenzung und Menschlichkeit erzählen. Denn, so der Choreograf: »Sie ist zeitlos und erschütternd aktuell.« Als Armenier habe er selbst oft genug erlebt, wie Leute ihm mit Blicken oder Worten signalisierten, dass er nicht zur »Norm« gehöre. Quasimodos innere Welt, sein Konflikt zwischen körperlicher Andersartigkeit und emotionaler Tiefe, lasse sich im Tanz auf eine unmittelbare, körperliche Weise ausdrücken.
Reine Seele
Das berühmte literarische Werk, das im mittelalterlichen Paris des Jahres 1482 spielt, handelt von zwei Außenseiter*innen: dem von Geburt an missgestalteten Quasimodo und der schönen Tänzerin Roma Esmeralda, in die er sich verliebt. Großgezogen vom Erzdiakon Frollo, verbringt das Findelkind Quasimodo seine Zeit verborgen hinter den Mauern der Kathedrale von Notre-Dame. Vom Dröhnen der Glocken ertaubt er, was zum Ende der Geschichte hin fatal sein wird. Frollo stellt Roma Esmeralda nach, die aber den Hauptmann Phoebus liebt. Es kommt zu Mord aus Eifersucht, Verrat, Pranger und Hinrichtung, aber auch zu tief berührender Menschlichkeit und Tragik. Hugos dramatische Erzählkunst brachte dem französischen Autor die Bezeichnung »Shakespeare des Romans« (Alphonse de Lamartine) ein.
Auch wenn Hugo den Glöckner als abstoßende Missgeburt beschreibt, soll er auf der Bühne in Essen nur hässlich wirken, wenn er unter Menschen ist. So will Armen Hakobyan verdeutlichen, dass er nur in den Augen der Gesellschaft missgestaltet ist. Ist der Glöckner aber allein unter den steinernen Wasserspeiern von Notre-Dame, soll davon nichts zu sehen sein. Der Choreograf: »Wir blicken in seine reine Seele.«
Es gibt eine historische Ballettfassung des Stoffs, »La Esmeralda«, uraufgeführt und weltberühmt geworden 1886 in Moskau. Sie stammt von Marius Petipa, der die ursprüngliche Choreografie von Jules Perrot aus dem Jahr 1844 überarbeitet hat. Auf diese Werke bezieht Hakobyan sich nicht. Er reduziert die komplexe Handlung in opulenter Ausstattung auf ihren Kern. Im Zentrum der Bühne steht die Kathedrale Notre-Dame. Die historische Stimmung des Romans will der Choreograf beibehalten und das Geschehen bewusst nicht in der Gegenwart verorten. Die aktuellen Bezüge sind für ihn offensichtlich.
Musikalisch sollen spätromantische Kompositionen von Korngold, Rachmaninow, Schostakowitsch, Schreker und anderen die Atmosphäre einfangen. Es spielen die Essener Philharmoniker.
AALTO-THEATER, ESSEN
AB 15. NOVEMBER






