Das
zaristische Russland ist längst auf den Hund gekommen. In einer alten
Fabrikhalle vegetiert das Personal von Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Oper »Pique
Dame« nur noch dahin. Vertrocknetes Gras sprießt aus dem bröselnden Beton, vom
undichten Dach zeugt eine Wasserlache auf dem Boden, im Hintergrund ein
schiefer Telefonmast und dahinter eine öde vor sich hinqualmende
Industrielandschaft. Die Gräfin trägt ein Bild von Katharina der Großen mit
sich herum, höfische Geziertheiten sind bei ihr längst zu Ticks geworden. Die
Ballgesellschaft: eine Horde gesellschaftlicher Außenseiter, die mit gefundenen
Fetzen feine Gesellschaft spielen (Kostüm: Gesine Völlm). Als wäre das nicht
alles schon deprimierend genug, endet der Abend mit dem Anfangsbild. Alles nur
eine Erinnerung? Eine wirre Phantasie?
Musik klingt selten saftig
Bühnenbildner
Johannes Leiacker und Regisseur Philipp Himmelmann lassen keine Hoffnung
aufkommen in der Geschichte um Hermann, der sich zwar aufrichtig in Lisa verliebt,
aber dann doch nur von der Leidenschaft zum Kartenspiel getrieben wird und die
Liebe missbraucht, um das Geheimnis der drei Karten von der Gräfin zu erfahren.
Tomáš Netopil und die Essener Philharmoniker passen den Sound konsequent der
Inszenierung an. Selten klingt Tschaikowskys Musik hier saftig, jedes Schwelgen
der Streicher wird einer leicht spröden Durchsichtigkeit des Klangs geopfert.
Einigen Strichen in der Partitur – insbesondere des Intermezzos – fallen zudem
gerade die besonders farbenreichen Passagen zum Opfer. Die Spieldauer verkürzt
sich so auf pausenlose zwei Stunden.
Personen bleiben blass
Himmelmanns Deutung ebnet die gesellschaftlichen Gegensätze, die das Libretto von Modest Tschaikowsky für die Zuspitzung der Konflikte nutzt, ein. Die ganze russische Gesellschaft ist längst am Boden angekommen. Das ist zunächst ein reines Konzept. Im Detail entscheidet sich, ob es auch aufgeht. Da aber krankt die Inszenierung. Während Helena Rasker als Gräfin ihre nervösen Zuckungen noch überzeugend zelebriert, bleiben die anderen Personen in der Ausgestaltung blass. Oft geschieht nicht gerade mehr als das unmittelbar Naheliegende und wenn nicht gestanden oder gesessen wird, bricht sich auch mal blanke Ziellosigkeit Bahn. Bei der durchweg guten Gesangsleistung erstaunt Sergey Polyakov als Hermann. Gleich zu Beginn, wo noch ein entspannter Ton angebracht wäre, steigt er mit seiner ganzen tenoralen Kraft ein, als gälte es hier einen Verdi abzuliefern. Das rächt sich an den dramatischen Höhepunkten im Verlauf, wo keine Steigerung der Emphase mehr möglich ist. Sowohl Helena Rasker als auch besonders Gabrielle Mouhlen als Lisa dosieren da wesentlich besser. Ein nicht allzu originelles, aber tragfähiges Konzept. Allerdings werden die detailverliebte Ausstattung und ein gutes Ensemble verschenkt durch zu wenig psychologische Genauigkeit in der Personenführung.
3., 13. und 16. November; www.theater-essen.de