Künstler-, Krisen- und Leidensbiografie: Unser Film des Monats über die Malerin Leonora Carrington »im Morgenlicht«.
Tarotkarten strukturieren die filmische Erzählung des Regie-Duos Thor Klein und Lena Vurma entlang einiger Stationen der Künstlerin und Ikone des Surrealismus, Leonora Carrington (1917-2011). Diejenige für das erste Kapitel heißt »Tod«. Dort, wo es spielt, in Mexiko im Jahr 1951, verbindet muerte sich mit Gesang und Feststimmung. Der Frau mit dem schmalen, ovalen Gesicht, dem hochfrisierten Haar und der angespannten Miene (vorzüglich dargestellt von Olivia Vinall) ist die Anstrengung anzusehen, die in dem Satz liegt, den sie sagt: »Für jeden ist das Leben harte Arbeit.«
Grüne Hügel, sanft geschwungen. Üppige Vegetation, Höhlengräber und antike Ruinen, Vogelgesang und keckernde Tiergeräusche. Was wir hier sehen und hören, wird Eingang finden in die Bild- und Geisterwelt der Leonora Carrington: magisch-animistisch aufgeladen, der Traumlogik folgend, Totems und Tabus ausdrückend und weibliche Chiffren setzend.
Paar auf Zeit
Mexiko 1951 und Paris 1938 sind nur einen abrupt kurzen Schnitt weit entfernt, und »Das Pferd« ist das Wappentier dieses biografischen Abschnitts. Die höhere Tochter einer irischen Mutter und eines autoritären englischen Textilfabrikanten, den sie in einem späteren Traum von einem riesigen Tiermonster zerfleischen lässt, geht nach Frankreich – und zu Max Ernst, ihrem verheirateten Geliebten. Dessen Extrem-Emotionen und Inspirationen finden den Weg aus seinem Innern hinaus auf die Leinwand und in den Stein, wo Menschen und Vögel und weitere mythologisch-fantastische Lebewesen und Zwiegestalten sich vereinen. Das Paar auf Zeit zieht in ein idyllisches Dorf an der Ardèche, wo sie vom Krieg, von Inhaftierung und der deutschen Besatzung überrascht werden. Leonora erreicht das faschistische Spanien, wird in Madrid aufgegriffen und im »Irrenhaus« mit Elektroschocks und Injektionen gequält (Kapitel »Die Hyäne«); sie kann nach Lissabon fliehen, wo sie ihrem ersten Ehemann begegnet, dem Schriftsteller Renato Leduc (diese Episode bleibt ausgespart), und weiter nach Südamerika.
»Die Blöße der Frau ist weiser als die Worte der Philosophen«, dekretiert der Frauen-Fresser Max Ernst, den Alexander Scheer mit sanfter, liebenswerter Ignoranz spielt, während er an einer monumentalen Skulptur spachtelt. Er schafft anscheinend spielend, seine Krisen zu meistern und zu kontrollieren, während sich die in sich selbst verbohrende, ihre Autonomie und Abhängigkeiten skeptisch befragende »Windsbraut« Leonora sich ihrer selbst und ihres Glücks nie sicher ist. Einmal ritzt sie manisch eine Kreisfigur in die steinerne Wand des Bauernhauses, als male sie sich hinein in die unaufhörlichen Windungen ihres Gehirns und ihrer Gedankengänge.
In den Kreativ-Salons der Surrealisten wird über die »Femme Enfant« von André Breton fabuliert, der sein kunstrevolutionäres Alphabet ausbuchstabiert, in dem Freiheit, Liebe, Opfer, Schönheit und die Überhöhung der Frau zur Muse zentrale Begriffe sind. Wobei die weibliche Position bevorzugt betrachtet wird als Erfüllungsgehilfin, Haushälterin und Sexualpartnerin und sie nur in Relation zum Mann besteht. Gegen diese Fixierung hat Leonora schon im Elternhaus rebelliert und tut es noch in ihrer zweiten Ehe mit dem ungarischen Fotografen Emérico ‚Chiki’ Weisz, mit dem sie zwei Söhne hat (dieses Kapitel heißt »Die alchemistische Küche«).
Der Film von Thor Klein und Lena Vurma, inszeniert nach dem Roman von Elia Poniatowska, nähert sich formal-erzählerisch dem Werk und der Spiritualität von Leonora Carrington an, indem er ihre Heimsuchungen im Zwischenraum von Selbstbehauptungswillen und Abwehr gegen Dominanzverhalten, Vision und seelischem Konflikt ineinander montiert. ****
»LEONORA IM MORGENLICHT«, REGIE: THOR KLEIN UND LENA VURMA, D / MEXIKO / UK / RUMÄNIEN 2025, 100 MIN., START: 17. JULI