Seit einem Dreivierteljahr ist die freie Theaterszene Nordrhein-Westfalens in Aufruhr. Gestrichene Fördermittel, fehlende Ausschreibungen für langjährige Programme und eine ungeschickt kommunizierende Kulturministerin lassen Künstler*innen und ihre Verbände in Sorge um die Zukunft sein. Worum geht’s da eigentlich? Das zeigt sich am Beispiel der Düsseldorfer Künstlerin Marlin de Haan.
Die große Unruhe begann im November vergangenen Jahres. Da hatte das Landeskulturministerium mehrere Förderungen für die Freie Tanzszene kurzfristig gekürzt oder sogar gestrichen. Die zugehörigen Erklärungen kamen spät, waren wenig plausibel und in sich widersprüchlich. Bei den Künstler*innen und ihren Verbänden kam der Eindruck auf, dass hier vor allem schnell und ohne echten Plan gespart werden sollte. Das umso mehr, da zeitgleich die überfällige Ausschreibung eines finanziell umfangreichen Landesförderprogramms für das Freie Theater immer weiter auf sich warten ließ. Diese sogenannte Spitzen- und Exzellenzförderung hat eine Laufzeit von drei Jahren; zuletzt bekamen 14 renommierte Ensembles aus ganz Nordrhein-Westfalen jährlich 80.0000 Euro (»Spitze«), drei weitere 100.000 (»Exzellenz«).
Diese Titel sind Programm: Es handelt sich um die beiden obersten Ebenen einer vierstufigen Förderarchitektur für die Freie Theaterszene. Die Düsseldorfer Regisseurin Marlin de Haan gehört zu denen, die sie exemplarisch durchlaufen haben: Vor rund zehn Jahren beantragte sie erstmals Projektförderungen für Einzelproduktionen unter ihrem eigenen Namen. Von 2018 bis 2021 erhielt sie dann die Konzeptförderung (Stufe zwei), die über drei Jahre läuft und je nach Bedarf mit 25.000 bis 50.000 Euro dotiert ist; de Haan bekam 45.000 Euro. Seit 2022 ist sie nun in der Spitzenförderung (nur wer die dreimal bekommen hat, kann in die Exzellenzstufe aufsteigen). Die Idee dahinter: Künstler*innen sollen sich beziehungsweise ihre Ensembles Zug um Zug professionalisieren.
Unternehmensführung statt Kunst
Marlin de Haan ist gleich nach dem Abitur zum Theater gegangen, studierte außerdem als Gast bei Rosemarie Trockel an der Düsseldorfer Kunstakademie. Sie sagt: »Ich bin eigentlich Regisseurin und Bildhauerin.« Dieses »eigentlich« ist hier ausnahmsweise mehr als ein Füllwort; viele Künstler*innen der Freien Darstellenden Szene beschreiben damit ein zentrales Problem ihrer beruflichen Existenz: Denn »eigentlich« wollen und sollen sie ihre Kunst machen, für die sie nicht zuletzt vom Staat gefördert werden. Tatsächlich geht aber mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit und -kraft drauf für Aufgaben der klassischen Unternehmensführung: Personalmanagement für die wechselnd beteiligten Künstler*innen und Techniker*innen, das Organisieren von Kooperationen und Auftrittsorten, Kommunikation und Presse, nicht zuletzt das Schreiben von aufwändigen Anträgen und noch aufwändigeren Verwendungsnachweisen für die Mittel von Bund, Land, Stadt, Stiftungen und weiteren Förderern.
An diesem Punkt setzt das Besondere – und für die Empfänger*innen besonders Wichtige – der Spitzen- und Exzellenzförderung des Landes an: Diese Gelder sind nämlich nicht an einzelne Produktionen oder Aufführungen gebunden, sondern können auch für das betriebliche Management eingesetzt werden. Dazu braucht es qualifiziertes Fachpersonal, das nicht nur Honorare auszahlen oder Hotelzimmer buchen kann, sondern sich auch mit den Eigenheiten des Freien Theaters auskennt, beispielsweise den komplizierten Vorschriften für jene streng geregelten Verwendungsmöglichkeiten von Geldern aus unterschiedlichen Quellen, und nicht zuletzt mit dem sehr eigenen Spirit des Kulturbetriebs. Mit der Lohnbuchhaltung eines Installateurs oder der Personalplanung vom ambulanten Pflegedienst ist dieser Job nicht zu vergleichen; Frauen und Männer mit entsprechender Expertise sind schwer zu finden.
Noch schwerer aber sind solche raren Fachkräfte zu halten, wenn die Finanzierung des Unternehmens und damit ihrer Gehälter nicht dauerhaft gesichert ist, so wie jetzt auch bei Marlin de Haan. Die muss sich wie alle anderen in diesem Landesprogramm für weitere drei Jahre in der Spitzenförderung bewerben. Dieser nächste Turnus hätte eigentlich am 1. Juli beginnen sollen, doch braucht so etwas immer einen Vorlauf von acht Monaten: Erst müssen die Förderung ausgeschrieben werden und alle in Frage kommenden Künstler*innen ihre Anträge stellen. Über die entscheidet dann eine Jury aus Expert*innen für Freies Theater: Wer wird künftig wieder, wer nicht mehr und wer neu gefördert?
Diese Beschlüsse prüft das Kulturministerium erst noch formal und dann werden sie verkündet. Das wäre selbst bei fristgerechter Ausschreibung im Herbst 2024 frühestens im April, eher aber im Mai passiert – also kaum zwei Monate, bevor die bisherige Förderung ausläuft. Welches Büropersonal, womöglich mit Familie, das andernorts händeringend gesucht (und gut bezahlt) wird, lässt sich auf so etwas ein? Dazu kommt, dass es in der vergangenen Förderrunde bereits 40 qualifizierte Bewerbungen für die 14 Spitzenförderplätze gab – also wird auch dieses Mal mehr als die Hälfte der Ensembles sicher leer ausgehen. Denn auch für die Künstler*innen selbst bedeutet diese gutgemeinte Systematik stete Unsicherheit: Sie sollen sich mit Hilfe der finanziell abgestuften, mehrjährigen Förderungen professionalisieren, also die künstlerische Qualität steigern, ihre Betriebsabläufe verbessern, größer werden. Wenn dann aber die Gelder vom Land plötzlich wegfallen, weil Mitbewerber*innen zum Zuge kommen oder der Etat gekürzt wird, lassen sie sich nicht einfach durch andere ersetzen: Weder die Kommunen in NRW noch der Bund oder die großen Kulturstiftungen finanzieren über längere Zeit künstlerische Betriebsstrukturen der Freien Szene.
Schritt zurück
In so einem Szenario gäbe es für die mehrfach ausgezeichnete Marlin de Haan nur noch eine Möglichkeit, um weiterzumachen: Sie müsste stattdessen erneut die geringer dotierte Konzeptförderung und mehr Einzelprojekte beantragen – bei der sie dann wiederum aufgrund ihrer Qualität und Erfahrung andere, vor allem jüngere Kolleg*innen verdrängen würde. »Ich müsste mich mit deutlich kleinerem Budget neu erfinden«, sagt die 48-jährige Künstlerin, die ihr persönliches Einkommen derzeit im unteren fünfstelligen Bereich ansiedelt – und dann auch dabei nochmal einen Schritt zurück machen würde.
Mittlerweile ist die Ausschreibung der nächsten Förderrunde im Spitzen- und Exzellenzbereich erfolgt, mit mehr als einem halben Jahr Verspätung; Programmstart ist jetzt der 1. Januar 2026. Den bisher Geförderten hat das Land erstmal Übergangszahlungen zugesichert. Künftig sollen vier Ensembles weniger als bisher eine Spitzenförderung erhalten. Zur Begründung für die Verzögerungen und Kürzungen sagte Kulturministerin Ina Brandes (CDU), es sei angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise lange unklar gewesen, ob ihr Etat auch in den nächsten Jahren für Förderungen in dieser Höhe ausreichen werde. Man werde die Programme jetzt fortsetzen, aber in leicht verringertem finanziellem Umfang. Marlin de Haan hat ihren Antrag jedenfalls gestellt. Ob sie auch in den nächsten drei Jahren wieder eine Spitzenförderung bekommt? Das liegt in der Hand der Jury.

Urbane Künste Ruhr
»Zwischen Erfinden und Erfassen«
Marlin de Haans Arbeit »Practising Apocalypse« ist am 3. bis 5. Oktober
(jeweils von 14 bis 17 Uhr) im Duisburger Innenhafen zu sehen.