kultur.west: Herr Butterwegge, zuletzt sind 50.000 Menschen in NRW auf die Straße gegangen, um gegen die Abholzung des Hambacher Forstes zu demonstrieren. Nehmen die Menschen ihr Mitspracherecht in der Demokratie wieder stärker wahr?
BUTTERWEGGE: Zumindest ist das ein ermutigendes Zeichen hierfür. Denn es zeigt, wie sehr die Menschen betroffen sind, nicht nur vom Klimawandel, sondern auch von der Art und Weise, wie die nordrhein-westfälische Landesregierung mit dem Thema umgeht.
kultur.west: Die Politik ist gerade stark unter Druck – nicht nur auf Landes-, sondern auch auf Bundesebene …
BUTTERWEGGE: Ja, die etablierten Parteien haben enorm an Vertrauen verloren. Das zeigt sich auch daran, dass die AfD seit knapp fünf Jahren von einem Wahlerfolg zum nächsten eilt. Offensichtlich erodiert da in der Mitte der Gesellschaft etwas. Das führt sowohl zu mehr außerparlamentarischem Protest von links als auch zu einer größeren Mobilisierung von rechts. Letztere ist Ausdruck einer neuen Entwicklung.
kultur.west: Sie haben viel zur Verbindung zwischen Rechtspopulismus und sozialer Ungleichheit geforscht …
BUTTERWEGGE: Ja, aber der Rechtspopulismus ist keine Protestbewegung von Armen und Arbeitslosen, sondern findet eher Zustimmung bei Menschen, die Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Die meisten AfD-Wähler kommen aus der Mittelschicht und haben Sorge, zwischen Oben und Unten zerrieben zu werden. Die AfD macht denn auch keine Politik für Arme und Abgehängte.
kultur.west: Eine Bewegung, die erklärtermaßen „Unten“ entstehen soll, ist die neue „Aufstehen“-Initiative von Sahra Wagenknecht. Was halten Sie davon?
BUTTERWEGGE: Man muss abwarten, wie sich dieses Projekt entwickelt. Sicher wirken die Initiatoren Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine auf viele wie Reizfiguren und halten manchen ab, sich dort zu engagieren. Aber es gibt offenbar sehr viele Menschen, die etwas tun wollen – gegen die Rechtsentwicklung unseres Landes, aber auch gegen soziale Ungerechtigkeit.
kultur.west: Wenn das Problem so eklatant ist. Warum gehen nicht genauso viele Menschen auf die Straße, um gegen die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zu protestieren, wie zuletzt im Hambacher Forst?
BUTTERWEGGE: Das Problem der sozialen Polarisierung ist viel schwerer zu fassen als die Tatsache, dass ein uralter Wald für den Braunkohle-Tagebau von RWE geopfert werden soll.
kultur.west: Ab wann gilt man als arm?
BUTTERWEGGE: Man kann zwischen absoluter und relativer Armut unterscheiden. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, zu wenig zu essen oder kein Obdach hat. Da wird immer sofort verwiesen auf die Dritte oder Vierte Welt. Aber es gibt auch in Deutschland mehr als 860.000 Menschen, die wohnungslos sind. Das sagt die Bundesregierung selbst in ihrem fünften Armuts- und Reichtumsbericht. Relativ arm ist, wer seine Grundbedürfnisse zwar befriedigen kann, aber sich vieles von dem nicht leisten, was in unserer reichen Gesellschaft als normal gilt. Arme Menschen gehen kaum ins Theater, ins Kino oder in den Biergarten – und leider auch immer weniger wählen.
kultur.west: Ab wie viel Euro im Monat ist man arm?
BUTTERWEGGE: Laut den neuesten Zahlen des Mikrozensus ab 999 Euro im Monat. Da liegt für Alleinstehende die sogenannte Armutsrisikoschwelle. Wer weniger hat, gilt danach als armutsgefährdet. Das sind immerhin 13,4 Millionen Menschen in Deutschland. Im Gegenzug dazu sagt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, dass die 45 reichsten Familien in Deutschland so viel besitzen wie die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung – also über 40 Millionen Menschen. Die beiden reichsten Geschwister unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, haben im Mai dieses Jahres eine Milliarde Euro und 126 Millionen Euro nur an Dividende aus der BMW-Aktie für das Vorjahr bezogen und ein Privatvermögen von 34 Milliarden Euro.
kultur.west: Warum ist es eigentlich so schwer, die Menschen auf die Straße zu bekommen, die von Armut betroffen sind?
BUTTERWEGGE: Arme steigen selten auf die Barrikaden, weil sie ganz andere Sorgen haben. Wenn eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug am 20. des Monats nicht weiß, wie sie noch etwas Warmes auf den Tisch bekommt für ihre Kinder, wird sie kaum vor das Kanzleramt in Berlin ziehen und gegen die wachsende soziale Ungleichheit demonstrieren. Im Hartz-IV-Regelsatz ist auch gar nicht das Geld enthalten, um mal eben nach Berlin zu fahren. Was aber auch viele von dem nötigen Protest abhält, ist die in unserer Gesellschaft herrschende Leistungsideologie. Es wird ja verbreitet, dass die Menschen, die reich sind, viel geleistet haben. Umgekehrt gilt Armut als gerechte Strafe für denjenigen, der ein Drückeberger, Faulenzer und Sozialschmarotzer ist. Das sitzt tief in den Köpfen und führt dazu, dass die Betroffenen diese Schuldzuweisungen der Öffentlichkeit verinnerlichen. Oft werden sie darüber (sucht-)krank.
kultur.west: Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
BUTTERWEGGE: Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und die Erweiterung des Sozialstaates zu einer solidarischen Bürgerversicherung wären wichtige Bausteine zur Verringerung der Armut. Man sollte einen inklusiven Sozialstaat schaffen, in den alle einzahlen – nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Dann wären auch Gutbetuchte stärker an der Finanzierung des Sozialstaates beteiligt.
kultur.west: In Bezug auf Hartz IV wird oft kritisiert, dass der Leistungsbezug auch mit Sanktionen verbunden ist. Wäre das bedingungslose Grundeinkommen eine bessere Lösung?
BUTTERWEGGE: Nein, das Grundeinkommen (hier ein Hintergrund zum Thema) halte ich eher für einen Irrweg, weil eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip ungerecht wäre. Über alle Wohnbürger per Grundeinkommen 1000 Euro im Monat auszuschütten, würde nichts an den ungleichen Verteilungsverhältnissen ändern. Es gäbe ja keine zusätzlichen Sozialleistungen mehr, sondern nur das Grundeinkommen – auch für die, die es gar nicht brauchen.
kultur.west: Sie haben in Ihren Studien immer wieder herausgearbeitet, wie sehr Armut isolieren kann und wie wichtig die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist. Würde da der Erlass von Eintrittsgeldern in Museen, wie er gerade wieder viel in NRW diskutiert wird, helfen?
BUTTERWEGGE: Kulturelle Teilhabe hat zur Bedingung, dass man den Kopf frei hat. Arme Menschen haben Existenzängste. Wenn die Kultur aufblühen und alle erreichen soll, müssen gute Arbeits- und Lebensbedingungen für die Mitglieder aller Bevölkerungsschichten geschaffen werden. Freier Eintritt in Museen wäre ein Anfang, der durch andere soziale Verbesserungen unterfüttert werden müsste.
kultur.west: Bildung ist also gar nicht der Schlüssel, um Armut zu beseitigen?
BUTTERWEGGE: Nein. Es gibt den missverständlichen Begriff der Bildungsarmut, den die Soziologin Jutta Allmendinger geprägt hat. Er erweckt den Eindruck, dass die Menschen arm sind, weil sie keine Bildung haben. Aber es ist genau umgekehrt: Weil sie arm sind, sind sie auch nicht gebildet. Denn dafür braucht es größere finanzielle Spielräume und gute Rahmenbedingungen. Menschen, die wenig Geld haben, verarmen auch kulturell. Arm zu sein heißt nicht nur, ein leeres Portemonnaie zu haben, sondern auch in fast allen Lebensbereichen unterversorgt und benachteiligt zu sein, etwa im Bereich des Wohnens und Wohnumfeldes, der Gesundheit sowie der Bildung, Kultur und Freizeitgestaltung.
kultur.west: Welche Aufgaben sollte die Kultur übernehmen?
BUTTERWEGGE: Sie müsste möglichst viele niedrigschwellige Angebote machen. Kürzlich wurde ich für ein Magazin des Kölner Schauspielhauses zum Thema »Arm und Reich« interviewt, weil »Die Weber« auf dem Spielplan standen. Wenn sich die Kulturszene wieder stärker mit sozialen Fragen beschäftigen würde, könnten sich auch Arme und Benachteiligte leichter einbezogen fühlen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte bis zu seiner Emeritierung 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. 2018 sind seine Bücher »Armut«, »Hartz IV und die Folgen« sowie »Grundeinkommen kontrovers« erschienen.