»Ein richtiges Ruhrpottkind, toll!« Cahit Bakır ist begeistert. Melanie Bauer* – eine füllige 21-Jährige mit dunklem Zopf, Lippen-Piercing, schwarz lackierten Fingernägeln – erzählt, auf welcher Zeche ihr Vater gearbeitet hat, dass er jetzt in Frührente ist und die Mutter Hausfrau. Dass sie gern studieren möchte, am liebsten BWL oders Vergleichbares, um im Rechnungswesen zu arbeiten. »Ich will deshalb die Prüfung zur kaufmännischen Assistentin und das Fachabi machen und überlege, das zum Vollabi auszubauen«, erklärt sie am Besprechungstisch des Mulvany-Berufskollegs in Herne. Klare Ziele, klare Etappen, das gefällt Cahit Bakır. Doch genauso klar sind die Hürden.
»Meine Deutschnote ist das Problem«, sagt Melanie Bauer. Sie hat einen Zweier-Notendurchschnitt, schafft in Deutsch aber nur mit Mühe eine Vier. Das hat mit der anderen Hürde zu tun, um die es in den Schul-Gesprächen Bakırs oft geht: die Ressourcen der Familie. »Meine Eltern stehen zwar hinter meinen Plänen«, sagt Melanie Bauer, »haben aber keine hohe Bildung«. Bei den Hausaufgaben kann sie sie nicht fragen; und mit welchem Schulabschluss man an welcher Hochschule Wirtschaftsstudiengänge belegen kann, erklären sie ihr erst recht nicht. Auch die Kosten eines Studiums bereiten Sorge. Bakır, 34 Jahre, rotes T-Shirt, dicker Ring am kleinen Finger, tippt ein paar Stichworte in den Laptop. Dann schiebt er Melanie Bauer von einem Stapel einen Flyer der Westfälischen Hochschule zu. Erklärt, auf welchen Internetseiten sie sieht, wo man was unter welchen Voraussetzungen studieren kann und wie viel ein Semester ungefähr kosten könnte. »Du hast schon eine starke Leistung gebracht, vom Hauptschulabschluss bis hierhin«, sagt er, »und wenn so ein Studium dein Ziel ist, begleite ich dich dahin«. Sie könne mit jeder Frage zu ihm kommen. »Aber jetzt gucken wir uns mal die nächsten Schritte auf dem Weg an.«
Heute trifft Bakır nur Neulinge, alle mit Nicht-Akademiker-Eltern. Darunter ein junger Mann mit Lese-Rechtschreibschwäche, der sich vielfältig ehrenamtlich engagiert und einen Notendurchschnitt von 1,8 schafft. »So jemandem muss ich oft die Scheuklappen nehmen und zeigen, was er da bringt«, erklärt Bakır, »das war ein tolles erstes Gespräch, er hat richtig gestrahlt, als ich gesagt habe, dass er das super macht«. Meist werden die Schüler von den Lehrern geschickt, wissen aber gar nicht, dass sie Talente sind. Ungläubig reagierte etwa der junge Mann, als Bakır ihm ein Stipendium vorschlug. Auch die kostenlosen Angebote zur Verbesserung der Noten oder Vermittlung grundlegender Fähigkeiten kennen viele wie Melanie Bauer oder deren Mitschüler nicht. Wie sie solche Angebote nutzen, können sie bei weiteren Schulterminen mit Bakır erfahren, auch Gespräche zur Bewerbungsvorbereitung oder Mails mit passenden Infoveranstaltungen gibt es auf Wunsch, bis hin zur mehrjährigen Betreuung, die noch das Studium begleitet.
Begonnen hat die Westfälische Hochschule Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen ihr Förderprogramm 2011 mit zunächst einem Talentscout, der sich vor allem auf strukturschwache Orte im Ruhrgebiet konzentrierte. In Gelsenkirchen etwa lebt jeder Fünfte von Mindestsicherung, gleichzeitig schaffen es dort weniger als ein Drittel der Schüler aufs Gymnasium, während es in Städten wie Münster mehr als die Hälfte sind. Für Geringqualifizierte ist die Aussicht zu verarmen wiederum überdurchschnittlich hoch, genau wie für Menschen ohne deutschen Pass. Sogenannte bildungsferne Schichten, Migrantenkinder oder Jugendliche aus armen Haushalten, haben es besonders schwer im Bildungssystem.
Erwartungen, Hilfestellungen und Netzwerke ihrer Eltern sind ganz andere als die wohlhabender Akademiker, die sich seit Generationen im Bildungssystem und entsprechenden Milieus bewegen. So landen nur gut 20 Prozent von ihnen, aber fast 80 Prozent der Akademiker-Kinder auf einer Hochschule. Zusammen mit Wissenschaft- und Schulministerium NRW wurde das Talentscouting deshalb mittlerweile auf sieben Hochschulen des Ruhrgebiets ausgeweitet. 30 Scouts sind unterwegs, darunter Wirtschaftsinformatiker, Maschinenbauer oder Designer. Neue bildet die Talentförderung NRW aus, die das Projekt koordiniert. Vier zusätzliche Hochschulen aus NRW können demnächst ins Programm einsteigen und wie die anderen mit bis zu 500.000 Euro pro Jahr rechnen.
»Im Ruhrgebiet gibt es ein Riesenpotenzial an Talenten, die aber oft einen anderen Weg gehen und deshalb ein Navi brauchen«, sagt Bakır. Gerade im Norden seien die benachteiligten Gruppen stark vorhanden, addierten sich Risiken für einen schlechten Bildungsabschluss. Er weiß, wovon er spricht. Seine Eltern, türkische Kurden, sind als klassische Gastarbeiter nach Deutschland gezogen, Nicht-Akademiker ohne Ausbildung. »Sie haben praktisch keine Schule von innen gesehen«, erzählt der Sohn. Mit seiner Geschichte will er ein Stück weit auch Vorbild sein, einen anderen Zugang zu den Jugendlichen finden. »Ich kann mich in ihre Lebenswelt hineinversetzen und interkulturell denken.«
Enttäuschungen hat er in seinem Jahr als Talentscout noch nicht erlebt. Wer öfter bei ihm auftauche, sei ohnehin motiviert, Angebote und Vorschläge auch anzunehmen. »Aber klar, deutliche Wort sagen wir schon mal, das schätzen die Jugendlichen, sonst wären wir auch nicht mehr authentisch«, sagt er. Wenn ein Mädchen Ärztin werden will, aber einen Notendurchschnitt von Drei hat, muss auch die Beratung auf dem Teppich bleiben. »Aber Träume zerstöre ich nicht, oft steigert sich das Potenzial ja auf jeder Etappe.«
So wie bei Melanie Bauer, die zuerst nur ihren Hauptschulabschluss erzielt hat, dann die Handelsschule abschloss und nun Stück für Stück ihren Traumjob in der Buchhaltung auf den Boden der Tatsachen holt. Sie steckt nach dem Gespräch mit Bakır drei Flyer mit kostenlosen Bildungsangeboten in die Tasche. Halblaut rechnet sie: »Dann mache ich mein Praktikum am Ende der Ferien, damit ich in den ersten Wochen das Sommerkolleg mit dem Deutschtraining schaffe.« Auch in ihrem Vorhaben, beim Pausencafé ehrenamtlich mitzuarbeiten, hat Bakır sie bestärkt. So etwas mache sich bei der Bewerbung um ein Stipendium gut. Da rennt er bei ihr ohnehin offene Türen ein: »Ich will das selbst im Lebenslauf haben, außerdem freue ich mich schon, da demnächst bei der Finanzbuchhaltung mitzumachen.«