Ganz am Schluss steht der Chor in Alltagskleidung vorne an der Rampe. Dahinter senkt sich ein Hänger, auf den erst „Daheim – Apotheose“ projiziert wird, dann folgen Bilder aus der Gelsenkirchener Innenstadt. Gut wiedererkennbare Motive, aber keine Postkartenansichten. Das könnte reiner Regional-Kitsch sein. Am Ende eines großen, eines hochemotionalen und wunderbaren Opernabends verfehlt es seine Wirkung nicht.
Die Inszenierung „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ ist nichts weniger als ein Triumph. Einer für sehr viele Beteiligte, zuallererst aber ein später für den Komponisten Jaromír Weinberger. Bereits in der ausgreifenden Ouvertüre strahlt und funkelt seine Partitur. Die Neue Philharmonie Westfalen stürzt sich unter Giuliano Betta in diesen Rausch brillanter Ideen, in das schillernde Geflecht aus Motiven und Klangfarben. Hochvirtuos ist das, eine immense Herausforderung für Musiker und Dirigenten, gerade weil es dann doch auch ganz leicht und manchmal volkstümlich einfach klingen muss. Das gelingt an diesem Abend uneingeschränkt.
Weinberger hatte mit „Schwanda“ 1927 seinen ersten Welterfolg, der auch sein einziger blieb und nach 1933 von den Spielplänen verschwand, weil der Komponist Jude war. Erst seit wenigen Jahren wird die Oper wieder zögernd entdeckt. Richard Strauß und Alexander Zemlinsky sind in der Partitur zu erahnen, böhmischer Ton genauso wie Operettenschmelz, Effektvolles, das später die große Zeit Hollywoods und den Revuefilm prägen wird, ist hier schon angelegt. Dank Weinbergers profunder kompositorischer Technik, die er bei Max Reger erlernte, wird all das zu einer kunstvollen Einheit gefügt, die sich ganz besonders in den symphonischen Zwischenspielen zeigt und staunen lässt, auch weil Eklektizismus immer, manchmal zwar nur knapp, aber doch sicher umschifft wird.
Auch Weinbergers Librettist Miloš Kareš bedient sich bei allerlei geläufigen Motiven der Volksmythologie. Schwanda ist glücklich verheiratet mit Dorota, in der Woche arbeitet er auf dem Feld, am Wochenende bringt er mit seinem (magischen) Dudelsack das Dorf zum Tanzen. Doch dann kommt der ehrenwerte Räuber Babinsky und verführt Schwanda, sein Glück in der großen weiten Welt zu machen. Heimlich stehlen sich die beiden davon, doch Dorota nimmt die Verfolgung auf. Erste Station der Reise ist das Reich der Eiskönigin, die ihr Herz an einen Zauberer verpfändet hat. Das Spiel auf dem Zauberdudelsack lässt die erstarrte Welt auftauen. Von dort geht es direkt in die Hölle, wo nun Schwanda seine Seele dem Teufel per Vertrag überlässt. Erst Babinskys gewitztes Taktieren und ein Kartenspiel mit dem Teufel, rettet beide. Zuletzt kommt Schwanda wieder in die Heimat, wo er erkennt, dass er hierher und in die Arme von Dorota gehört, während Babinsky sich in die Wälder zurück zieht und sich eingesteht, dass ihm im Leben alles gelinge außer der Liebe.
Dieser ehrenwerte Räuber, der neben Schwanda die heimliche Hauptpartie ist, wird in Gelsenkirchen von Uwe Stickert als Gast gesungen. Erst fünf Wochen vor der Premiere ist der Sänger eingesprungen, musste sich in kürzester Zeit die Partie zueigen machen und ist schlicht eine Sensation. Sein hoher lyrischer Tenor ist frisch und leicht, dabei aber ebenso durchsetzungsfähig. Mühelos wechselt er zwischen Liedton und Operettenschmelz, kraftvoller Dramatik und Charaktergesang. Eine Stimme, wie sie mit ihrer spielerischen Souveränität nur ganz selten vorkommt – insbesondere in diesem Fach. So leicht und selbstverständlich scheint Stickert das alles zu sein, dass er auch darstellerisch noch enorme Präsenz auf die Bühne bringt.
Große, glitzernde Eiskönigin
Bei aller Brillanz lässt er niemanden neben sich blass aussehen. Pjotr Prochera ist mit ungemein charmantem Bariton ein ebenbürtiger Kumpan in jedem Abenteuer. Ilia Papandreou rührt mit ihrer wunderbar schlicht und ehrlich geführten Stimme unmittelbar an, Petra Schmidt zeichnet eine große glitzernde Eiskönigin, Michael Heine einen durchtriebenen Zauberer und Joachim G. Maaß singt den Teufel mit Witz und hervorragendem Gespür für die vielfältigen Charakterzüge der Rolle. Selbst die kleineren Partien sind mit Tobias Glagau, Jiyuan Qiu und John Lim exzellent besetzt. Der Chor und Extrachor des Musiktheaters, der bis auf das erste Bild tragend ist, wurde von Leiter Alexander Eberle grandios aufgestellt.
Der Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema lässt sich ganz von Weinberger / Kareš mitreißen. Gerade bei einer beim Publikum nur wenig bekannten Oper ist es richtig, nicht allzu viel Konzept aufzubürden, sondern die Geschichte erst einmal so zu erzählen, wie sie gedacht wurde. Und das ist in diesem Fall gewiss eine Herausforderung, denn so fantasievoll sind Musik und Story, dass die Inszenierung einiges aufbieten muss, um da nicht schwach zu wirken. Dijkema gelingt es. Im bezaubernden Garten am Beginn genauso wie im schneeverwehten Reich der Eiskönigin, wo beim Klang des Dudelsacks plötzlich wie von Zauberhand bunte Blumen aus Röcken, Jacken und Frisuren blühen. Unangefochtenes Highlight des Abends ist dann der sich bis in den Schnürboden türmende Berg aus den höllischen Heerscharen.
Es ist aber nicht nur eine überwältigende Bildwelt, sondern auch im Detail immer liebevolle und schlüssige Personenregie mit viel Freude am Humor des Librettos und an der Komposition. Und nicht zuletzt ist dieser perfekte Opernabend nur deshalb möglich, weil ihm Thomas Ratzinger ein kongeniales Lichtdesign schenkt, weil die von Ideen überschäumenden Kostümentwürfe von Jula Reindell in den Werkstätten so perfekt umgesetzt wurden und die Maske unter Petr Pavlas bei Perücken und Maskenbild außerordentliches geleistet hat. Allein technisch ist dieser Abend auf einem Niveau, das sich locker mit den ganz großen Opernhäusern messen kann. „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ ist ein wirklich alberner Titel, wie Intendant Michael Schulz bemerkt, aber es ist eine großartige Oper, wenn sie in solcher Qualität – musikalisch wie inszenatorisch – wie jetzt am Musiktheater im Revier zu erleben ist.
Wieder am 27. Juni 2019, 5. und 7. Juli (Wiederaufnahme am 31.8.), Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen, www.musiktheater-im-revier.de