Ein speckiges, orangefarbenes Sofa, ein dreckiger Kühlschrank, in dem wohl nur die Bierdosen noch nicht verschimmelt sind – ein ganz normales möbliertes Dachgeschoss-Appartement in Berlin. Hier ist Fritz Steppke untergekommen, der gerade seinen gutdotierten Informatikerjob an den Nagel gehängt hat. Fürs Umweltministerium hat er Katastrophen simuliert, die immer gut endeten – genau deshalb war er hoch geschätzt. Dann kam eine – nicht gerade fürstliche – Erbschaft. Seitdem sucht Steppke die große Selbstverwirklichung in einem Start-Up.
Da sitzt er nun im leicht gammeligen Hipster-Outfit (Kostüme: Yvonne Forster) zusammen mit dem noch nicht sonderlich erfolgreichen Demnächst-Modedesigner Lämmermeier und Hausmeister Pannecke, der, wann immer möglich, vor der Arbeit und seiner Freundin und Vermieterin Pusebach flieht. Steppkes großes Projekt: Virtuelle Mondfahrt für alle. Mit VR-Brillen wird gerade ein erneuter Versuch unternommen, bis der Rechner mal wieder wortwörtlich abraucht. Konsequent packt Regisseur und Text-Neudichter Thomas Weber-Schallauer Paul Linckes Revue-Operette von 1899 ins heutige Berliner Milieu.
Schön schnodderig
Das war auch schon bei der Premiere im kleinen Haus in der vergangenen Spielzeit so. Gerade dem text- und handlungslastigen ersten Teil tut das gut, weil es den satirischen Witz, den das Original-Libretto von Heinz Bolten-Baeckers zur Entstehungszeit hatte, nicht in possierlicher Nostalgie untergehen lässt. Zur deutlichen Belebung trägt auch die reduzierte Bandbesetzung bei, die Linckes Schlagerparade eine ruppige Schnodderigkeit gibt, die den Orchesterarrangements abgeht. Irgendwo zwischen Tanzorchester und Zirkusband pendelt der Sound der zwölf Musiker*innen und ist doch immer tragfähig genug, um auch den Revue-Auftritten im zweiten Teil ein akustisches Rückgrat zu geben.
Auf der Erde läuft es gerade nicht rund für Steppke: Sein Mondfahrtprogramm läuft nicht, der Computer ist verschmort, Vermieterin Pusebach will Geld und seine Freundin Marie ist weg, wenn er nicht bald wieder ordentlich verdient. Da hilft erstmal ein Nickerchen, um von der abenteuerlichen Reise zum Mond zu träumen. In der neuen Fassung für die große Bühne gibt es weiterhin ein Einheitsbühnenbild von Christiane Rolland, ergänzt um Videos von Volker Köster. Durch Corona sind Plastikvisiere und Abstandsregeln hinzugekommen.
Gleich zur Ouverture flimmert – ganz Star Wars – der Vorspanntext über die Leinwand hinaus in die Weiten des Alls: »Es war einmal vor gar nicht langer Zeit in einer ganz, ganz nahen Galaxis. Das neuartige Virus SARS-CoV-2 hatte das Leben der Bewohner der Erde in eisernem Griff. Tapfere Männer und Frauen mühten sich täglich, aus ihren Vorräten an Klopapier, Mehl und Hefe schmackhafte Gerichte für ihre Liebsten zu kochen“, heißt es aus dem Off. Daraufhin hätten sich Verschwörungstheorien ausgebreitet, schneller als das Virus selbst. Und tapfere Frauen und Männer für hohe Infektionsraten gekämpft, um so die Arbeitsplätze ihrer Helden zu sichern. Auch auf dem Mond also scheint sich das Virus zu verbreiten.
Operettenglück

Schließlich hebt das orangefarbene Sofa in Steppkes Traum ab samt blinder Passagierin Pusebach und hinterlässt auf seinem Flug zum Mond eine Spur von »Astro Urtyp«-Dosen. Auf dem Mond wartet ein Geflecht amouröser Verwicklungen, bis der große Mondball das Finale einläutet. Wunderbar albern schwebt dazu Prinz Sternschnuppe in seiner Sphärenblase heran. Das auf dem Mond unbekannte Wort »Abnäher« wird als geheimnisvolles Frauenlockmittel verstanden, der selbstverliebte Mars ist auf unentwegter Jagd nach Instagram-Followern und Haushofmeister Theophil entpuppt sich als irdisches Techtelmechtel der Pusebach.
Die Sänger*innen stürzen sich lustvoll in den Schlagersound von Paul Lincke. Bele Kumberger als Frau Luna sticht mit ihrem edlem Operettensopran heraus, Joachim G. Maaß wirft seine ganzen Entertainerqualitäten in die Doppelrolle Pannecke / Theophil, Sebastian Schiller ist bei aller nerdigen Schlaffheit ein ungemein sympathischer Steppke und Dongmin Lee eine wunderbar spitzzüngige Zofe Stella. Grandios auch der Prinz Sternschnuppe von Martin Homrich. Seine durchsetzungsfähige Tenorstimme ist tief im Heldenfach verankert, umso irrwitziger die Selbstironie, mit der er seine Rolle spielt. Lina Hoffmann liefert als Mondgroom nicht nur ein anrührendes »Glühwürmchen flimmre« in perfektem Soubretten-Ton, sondern auch beschwipst ein darstellerisches Kabinettstück. Ein wenig schmerzt, dass der Chor nur als Video-Ton-Einspielung dabei ist, auch weil dessen Kostüme zu den Highlights gehörten. Dass aber eine Operette unter den aktuellen Einschränkungen auf der Bühne überhaupt möglich ist und so viel Spaß machen kann, ist eine große Erleichterung und ein Glück.
Termine: 13. September, 3. und 24. Oktober, 1. und 29. November, 4., 5. und 25. Dezember 2020, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, www.musiktheater-im-revier.de