Von Drohungen bis zu sexuellen Übergriffen – der Begriff Machtmissbrauch umfasst ein weites Feld. Immerhin wird die Debatte darüber mittlerweile geführt. Auch an den Theatern in NRW, wo aktuell das Theater Essen und der ehemalige Ballett am Rhein-Chef Demis Volpi in der Diskussion stehen. Bieten künstlerische Institutionen dem Machtmissbrauch eine besondere Bühne? Und was müsste sich verändern?
Die Fragen kamen von der Bühne, direkt ans Publikum. Wer bekommt ein Monats-Netto-Gehalt von über 1000 Euro? Der oder die solle stehenbleiben. Die anderen dürften sich setzen. 2000 Euro? 5000 und mehr? Wer ist in einer Leitungsfunktion tätig? Und wer hat schon mal seine Macht missbraucht? Es war 2023, während der Eröffnungsinszenierung der Mülheimer Theatertage. Die Autorin Sivan Ben Yishai war mit ihrem Stück »Bühnenbeschimpfung« eingeladen, in dem das Theater selbst, seine Machtstrukturen und Missstände innerhalb des Betriebssystems gnadenlos angegangen wurden. Gezeigt wurde die recht freie Inszenierung von Sebastian Nübling am Berliner Maxim Gorki Theater. Selbst so ein Ort, an dem die Intendantin einige Zeit zuvor für ihren Führungsstil und ein »Klima der Angst« schwer kritisiert wurde. Und im Mülheimer Publikum? Da blieben dann schon einige in der Szene bekannte Theaterschaffende stehen. Selbstkritisch, manche mit etwas verschämten Blick oder zuckenden Schultern.
Machtmissbrauch ist ein zentrales Thema an den Bühnen. Jeder Fall muss für sich betrachtet und bewertet werden. Und (öffentliche) Vorverurteilung kann unnötigen, vernichtenden Schaden anrichten. Aber in Folge der globalen MeToo-Bewegung, die 2017 durch die Vorwürfe gegen den mittlerweile verurteilten ehemaligen Filmproduzenten Harvey Weinstein ausgelöst wurde, findet auch an den Theatern endlich eine Debatte darüber statt.
Belastendes Betriebsklima in Essen
Aktuell rumort es zum Beispiel am Theater Essen an gleich mehreren Stellen. Mit dem Thema Machtmissbrauch wird nur die eine in Verbindung gebracht. Bei der anderen geht es vielmehr um Streit zwischen Führungskräften: Am Schauspiel haben sich die beiden Co-Intendantinnen Selen Kara und Christina Zintl heillos verkracht. Nun bleibt die eine (Kara) und die andere geht. Zintl »scheidet zum 31. August auf eigenen Wunsch aus«, wie es nach der Aufsichtsratssitzung der Theater und Philharmonie (TUP) Essen in einer Pressemitteilung hieß. Anders gelagert ist der Fall am Aalto Musiktheater: Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti wird Mobbing und Machtmissbrauch vorgeworfen. Das Ensemble berichtet von Einschüchterung, Drohungen und einem psychisch belastenden Betriebsklima. Auch Intendantin Merle Fahrholz wird kritisiert. Die Vorwürfe wurden nun von einer TUP-internen Beschwerdestelle und dem Aufsichtsrat geprüft. Im arbeitsrechtlichen Sinne sei Sanguineti kein Fehlverhalten nachzuweisen, ergab eine externe juristische Prüfung. Also darf der GMD vorerst bleiben. Aber über seinen Vertrag hinaus, der am 31. Juli 2027 endet, würde die Zusammenarbeit nicht verlängert. Zeitgleich geht auch Merle Fahrholz, die bereits im Februar ihren Verzicht auf einen neuen Dienstvertrag erklärt hatte.
Am Hamburger Ballett endete jetzt die Intendanz von Demis Volpi nach nur einer Spielzeit. Auch gegen den Ballettchef gab es massive Vorwürfe vonseiten der Kompanie. Ein toxisches Arbeitsklima wurde ihm in einem offenen Brief vorgeworfen. Auch Tänzer*innen vom Düsseldorfer Ballett am Rhein, Volpis vorheriger Station als Intendant, meldeten sich daraufhin und klagten über eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit. Der Aufsichtsrat der Hamburgischen Staatsoper und Volpi hätten sich auf die einvernehmliche Auflösung seines Vertrags geeinigt, heißt es nun.
Von Drohungen, Schikane und Psychotricks bis zu sexuellen Übergriffen. Die Palette an missbräuchlich angewandter Macht an künstlerischen Institutionen ist groß. 2019 erschien Thomas Schmidts Studie »Macht und Struktur im Theater«. Der Theaterwissenschaftler machte massiven Machtmissbrauch im deutschsprachigen Theater aus und forderte strukturelle Veränderungen im System.
Auf der Bühne geht es immer um Extremsituationen, benennt Raphael Westermeier, Vizepräsident und NRW-Landesvorsitzender der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA), eine grundlegende Herausforderung. Und Menschen agierten in Extremsituationen nicht immer fair. Dauerhafter Druck, Geniekult, mangelndes Sozialleben außerhalb der Theaterfamilie durch außergewöhnliche Arbeitszeiten und befristete Arbeitsverträge förderten außerdem die Anfälligkeit für Machtmissbrauch. Als GDBAler fordert er dringend eine Reform der Nichtverlängerungspraxis für künstlerisches Personal. Arbeitsverhältnisse ließen sich viel zu einfach beenden, nach dem Motto »ich habe heute leider kein Foto für dich« oder »ich fühl’s gerade nicht«. Es gebe da keine Kontrollmechanismen, künstlerische Gründe sind juristisch nicht überprüfbar.
»Das Bewusstsein für Machtmissbrauch ist mittlerweile da, wir reden darüber, es gibt Beratungsstellen und den Verhaltenskodex», sagt Raphael Westermeier. Mit der Entwicklung des wertebasierten Verhaltenskodexes 2018 reagierte der Bühnenverein auf endlich geführte Debatten über Themen wie Mitbestimmung, MeToo, Parität oder die Frage nach einem guten Führungsverhalten. Der Wertekodex soll sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch vorbeugen. Aber der Kodex müsse eben auch gelebt werden.
Themis-Vertrauensstelle berät
2018 startete die Themis-Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e.V. ihre Arbeit. Ein unabhängige und überbetriebliche Beratungsstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in der Kultur- und Medienbranche. Sie führten 2024 insgesamt 769 Beratungsgespräche, 129 Menschen haben sich erstmals mit der Bitte um Unterstützung an Themis gewandt. Maren Lansink, geschäftsführende Vorständin, kann die Zahlen ziemlich gut aufschlüsseln: »Von den 129 Erstkontakten betrafen 68 Fälle verbale, nonverbale oder digitale sexuelle Belästigung, 44 Fälle körperliche Belästigung und 17 Fälle Vergewaltigung.« Lansink findet es nach wie vor erschreckend, so häufig mit Fällen von schweren körperlichen Übergriffen bis hin zu Vergewaltigungen zu tun zu haben. Und sie vermutet, »vielen in unserer Branche sind die Häufigkeit und die Bandbreite an Übergriffen nicht bewusst.«
Die Betroffenen? Das seien zum größten Teil Frauen, erklärt Lansink. Während die überwiegende Mehrheit der Beschuldigten Männer seien. Männer seien aber ebenfalls betroffen, Themis vermutet da sogar ein deutliches Dunkelfeld. Auch homosexuelle und nicht-binäre Menschen, die häufig mehrfach Diskriminierung erleben, seien besonders betroffen. Und Menschen mit Migrationshintergrund.
Maren Lansink sieht aber auch Fortschritte in ihrer Arbeit: »Immer mehr Menschen wenden sich an uns, und ihre Bereitschaft, ihre Rechte einzufordern und offizielle Beschwerden einzureichen, steigt. Gleichzeitig nehmen wir wahr, dass Unternehmen in der Branche zunehmend Verantwortung übernehmen wollen, um sexueller Belästigung aktiv vorzubeugen.» Aber der Weg ist hart, ihre Arbeit im Team mit insgesamt sieben Mitarbeiter*innen (davon fünf Berater*innen) beschreibt sie als frustrierend und bereichernd zugleich. »Wir hören von sehr belastenden Vorfällen und tiefgehender Verzweiflung. Oft geht es nicht nur um das traumatische Erlebnis selbst, sondern auch um existentielle Fragen – etwa die Angst, dass die berufliche Zukunft dadurch gefährdet ist.«
Ein weiteres zentrales Problem im Machtgefüge sieht Westermeier bereits in der Besetzung von Leitungspositionen. Intendanten leiten ein Unternehmen mit zum Teil mehren hundert Beschäftigten, aber niemand müsse eine entsprechende Qualifikation vorweisen. »Warum gibt es kein psychologisches Assessment Center?« Auch eine überregionale Vertretungsperspektive der Gewerkschaften als Arbeitnehmendenvertretung in Findungskommissionen hält er für hilfreich und nötig.
In Essen sollen jetzt »zwei Expert*innen aus dem bundesweiten Theaterumfeld« die anlaufende Intendanz-Findungskommission unterstützen und eine externe Beratung zur Organisation des Findungsprozesses stattfinden. Hoffen wir das Beste.