Geboren ist sie in Nigeria. Zuhause in Antwerpen. Otobong Nkangas Biographie steht beispielhaft für ein Leben zwischen zwei Kontinenten – das prägt auch ihre Arbeit: Im Sankt-Jans-Hospital zum Beispiel zeigt sie »Anamnesis«, eine Installation im Dachgeschoss: In eine flussartig mäandernde Wandvertiefung sind Kräuter, Gewürze und andere Rohstoffe eingelassen, die einst von Afrika nach Belgien importiert wurden. Schließlich war das Land im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der führenden europäischen Kolonialmächte. Auch Brügge mit seinem Seehafen im Ortsteil Zeebrugge war eingebunden in dieses Netz von Handelsrouten. Dass ausgerechnet im Sankt-Jans-Hospital, einem von mehreren Spielorten der Brügger Museen, im Mittelalter Pilger und Reisende Unterschlupf fanden, ist eine weitere schöne Facette ihrer Arbeit, die speziell für diesen Ort entstand.
Geschichte und Geschichten, damit ist Nkangas Kunst auf vielerlei Weise verknüpft. Ihre leuchtenden Tapisserien und Teppichskulpturen, ihre Bilder, Fotografien, Videos, Performances und Gedichte erzählen vom ewigen Konflikt zwischen Natur und Zivilisation. Aber auch von der Ausbeutung von Landschaften und Menschen, wie sie durch die Globalisierung perfektioniert worden ist. Rohstoffe, Sand und Erde etwa, die sie von Afrika nach Europa schiffen lässt, dienen in Otobong Nkangas Arbeiten als Symbole für die Ökonomisierung der Natur und unseren rücksichtslosen Umgang mit Ressourcen. Dabei ist ihre Kunst politisch und poetisch zugleich.
Besonders poetisch, ja geradezu meditativ mutet ihre Installation »Taste of a Stone« an, die im Erdgeschoss des Sankt-Jans-Hospitals gezeigt wird. Ein steinerner Garten entfaltet sich hier, bestückt mit Felsen und weißen Kieseln. Was können Steine über das Land und den Boden erzählen? Welche Funktion erfüllen sie? Denkbar ist beispielsweise, dass mit ihnen ein Grundstück abgesteckt wird. Und wie verändern sie ihren Charakter, wenn sie von einem zu einem anderen Ort verfrachtet werden? Wer sich auf die Spur der Steine heftet, dessen Horizont erweitert sich – nicht nur in ästhetischer, sondern auch in mentaler Hinsicht.

Die Besucher*innen der Brügger Ausstellung »Underneath the Shade We Lay Grounded« erwartet also Gegenwartskunst, die dem Auge reichlich Nahrung gibt und zugleich unser Denken anspornt. Das Besondere der Präsentation des Musea Brugge besteht darin, dass die Beschäftigung mit Kolonialismus sowie den sozialen und topographischen Veränderungen der Umwelt einhergeht mit einer Befragung ausgewählter Werke aus der Sammlung. Rund 75 000 Objekte umfasst der Bestand der Brügger Museen. Eines der Highlights ist die Kollektion der sogenannten Flämischen Primitiven, die im 15. Jahrhundert die altniederländische Malerei revolutionierten. Meister wie Jan van Eyck, Hans Memling oder Hugo van der Goes gehören dazu. Muten Otobong Nkangas Arbeiten im Vergleich zu ihnen zunächst wie Kunst von einem anderen Stern an, so kann man bei näherem Hinsehen durchaus Parallelen entdecken. Der virtuose Umgang mit Farbe und ornamentierten Flächen gehört ebenso dazu wie der Wille, mit künstlerischen Konventionen zu brechen und neue Wege zu gehen.
Die Auseinandersetzung mit alter Kunst, wie sie von Otobong Nkanga vor Augen geführt wird, kann stellvertretend für einen Kurswechsel der Musea Brugge stehen: Im neuen Ausstellungsraum BRUSK sollen zukünftig circa fünf Kunstausstellungen im Jahr stattfinden, die den Brückenbau zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Szene setzen.
Im Sankt-Jans-Hospital steht nach dem Ende von Nkangas Ausstellung ein weiteres Highlight auf dem Programm: Ende Oktober gibt die Ausstellung »Den Tod vor Augen. Hugo van der Goes: Alter Meister, neue Blicke« Einblicke in die Restaurierung eines der Spitzenwerke des flämischen Malers. Die Rede ist von seinem Gemälde »Der Tod Mariä« (um 1480), dessen ursprünglicher Glanz in den vergangenen vier Jahren wiederhergestellt worden ist. Wenn diese Schau am 5. Februar 2023 ihre Pforten schließt, wird das Hospital umgebaut. Im Herbst 2023 soll es seine Besucher*innen mit einer vollständig erneuerten Innenarchitektur empfangen. Ein Grund mehr, Brügge einen Besuch abzustatten.
»Underneath the Shade We Lay Grounded. Otobong Nkanga«, Musea Brugge/Sint-Janshospitaal, Brügge, 25. Juni bis 25. September 2022
Die Ausstellung auf der Website von Musea Brugge: https://www.museabrugge.be/de/kalender/ausstellungen/otobongnkanga
Website von Otobong Nkanga: