Welcher nachdenklich-hellwache Zeitgenosse hat Peter Paul Rubens wohl bei seinem »Kopf eines bärtigen Mannes« Modell gestanden? Wen verewigte der flämische Maler Michael Sweerts in seinem bezaubernden »Bildnis eines Mädchens«? Und wer ist der derbe Geselle, der in Adriaen Brouwers Bild »Der bittere Trank« vor Ekel über die verabreichte Medizin eine heftige Grimasse schneidet?
Wir wissen es nicht und werden es auch nie erfahren. Der Grund: Alle diese Bildnisse, die so individuell anmuten, geben anonyme Modelle wieder und waren nicht dazu bestimmt, das Aussehen historisch greifbarer Personen zu überliefern. Bei den »No Name«-Porträts handelt es sich um eine eigene, wenig bekannte Kategorie der Malerei, die im 16. Jahrhundert in den Niederlanden unter dem Begriff »Tronie« entstand. Inspiriert unter anderem von jenen grotesken Köpfen, die Leonardo da Vinci im frühen 16. Jahrhundert zeichnete, legten sich zahlreiche niederländische und flämische Künstler ein Repertoire von ausdrucksstarken Charakterköpfen an. Sie fanden im Atelier als Motivschatz bei der Vorbereitung von Gemälden Verwendung, wurden wegen ihrer oft spontanen und temperamentvollen Malweise aber auch von Sammlern geschätzt und gekauft.

Dabei dienten die »Tronies« verschiedenen Zwecken: Einerseits verkörperten diese Studien bestimmte Typen, die mitunter exotisch kostümiert waren – beispielsweise den alten Mann oder die alte Frau, den Soldaten, die Hirtin, den Orientalen oder den Schwarzen. Andererseits dienten sie als Fahnenträger von Ideen und moralischen Eigenschaften: Weisheit, Stärke und Frömmigkeit können die »Tronies« ebenso symbolisieren wie Dummheit, Jähzorn oder Lüsternheit.
Bei der Ausstellung des Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, deren niederländischer Titel »Krasse Koppen« weitaus zupackender klingt als das englische Äquivalent »Turning Heads«, handelt es sich um die erste große Sonderausstellung seit der grandiosen Wiedereröffnung im September 2022. Organisiert wurde die Schau gemeinsam mit der National Gallery of Ireland in Dublin, wo die Präsentation vom 24. Februar bis 26. Mai 2024 gezeigt wird.
Knapp 80 »Tronien« haben die beiden Ausstellungsmacher Nico Van Hout und Koen Bulckens zusammengetragen. Darunter Werke von Meistern wie Pieter Bruegel dem Älteren, Jacob Jordaens, Frans Hals, Jan Lievens und Vermeer – dessen Preziose »Mädchen mit rotem Hut« fand den Weg von der National Gallery of Art in Washington nach Antwerpen.
Den Auftakt der Schau markiert ein Blick zurück ins 15. Jahrhundert: Albrecht Dürers Gemälde »Jesus unter den Schriftgelehrten« und Hieronymus Boschs »Kreuztragung Christi« gleichen sich darin, dass der Heiland von garstigen, fratzenhaften »Tronien« eingekesselt wird, die seine sittliche Makellosigkeit noch stärker betonen. Weitere Sektionen der Ausstellung befassen sich mit Kopfdarstellungen, die für Studienzwecke hergestellt wurden, etwa um Lehrlinge im Atelier an die Figurenmalerei heranzuführen. Dass Kleider Leute machen, diese Weisheit bewahrheitet sich einmal mehr im Abschnitt »Costumed« – hier trifft man auf Beispiele des Genres, die durch Turbane und phantasievolle Gewänder einen exotischen Touch bekommen.

Weil wir 42 Gesichtsmuskeln haben, sind unserem Mienenspiel kaum Grenzen gesetzt. Die Sektion »Expression« demonstriert diesen Nuancenreichtum anhand von mimischen Musterbeispielen, die zwischen Lachen und Verzweiflung changieren. Nicht zuletzt trug der subtile Einsatz von Licht und Schatten dazu bei, den Dargestellten eine unverwechselbare Physiognomie zu verleihen. Schöne Belege hierfür reiht der Bereich »Light and Shade« aneinander.
Niemals zuvor sind so viele Porträts gemacht worden wie im Digitalen Zeitalter. Auf die Inflation der Selfies in den Sozialen Netzwerken reagiert die Ausstellung des Königlichen Kunstmuseums mit der Experimentierzone »Experiencing Faces«. Hier können Besucher*innen den »Tronie« in sich zum Vorschein bringen, indem sie sich mit ungewöhnlichen Kopfbedeckungen und Kostümierungen in Szene setzen. Dank raffinierter Lichteffekte wirken diese Selbstporträts beinahe so, als seien sie von Rembrandt und Rubens persönlich gemalt.
»Turning Heads. Bruegel, Rubens and Rembrandt«, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten Antwerpen (KMSKA), 20.10.–21.1.2024, https://kmska.be/en/turning-heads