1893 vollendete der belgische Architekt Victor Horta das Hôtel Tassel. Das Stadthaus an der Brüsseler Rue Paul Emile Janson gilt als Gründungsbau der Art Nouveau. Für diese um 1900 europaweit florierende Kunstrichtung hat sich in Deutschland der Begriff Jugendstil eingebürgert. Das Zentrum ist Brüssel, das 2023 das 130-jährige Jubiläum von Hortas Schlüsselbau mit einem Art-Nouveau-Jahr feiert.
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert richtete sich der Jugendstil sowohl gegen den Historismus, der sein Heil in der Nachahmung der Vergangenheit suchte, als auch gegen rücksichtslose Industrialisierung und Massenproduktion. Egal ob Architektur, Kunstgewerbe, Buchgestaltung oder Malerei – sämtliche künstlerische Disziplinen wurden von dem Reformstil erfasst; er zeichnet sich aus durch erlesene Materialien, elegant geschwungene Linien und flächenhaft pflanzliche oder abstrakte Ornamente.
In Belgien gehörte Victor Horta (1861–1947) zu den Vorreitern der Art Nouveau. Einige seiner Gebäude, alle in Brüssel zu finden, stehen seit 2000 auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO. Neben dem Hôtel Tassel ging dieses Adelsprädikat an das Hôtel Solvay, das Hôtel van Eetvelde und an das frühere Wohn- und Atelierhaus Victor Hortas, das jetzt Sitz des Horta Museums ist.
Doch ist die Art-Nouveau-Architektur in Brüssel keineswegs auf Horta beschränkt. Ganz im Gegenteil: Rund 1000 Häuser in der belgischen Hauptstadt zeugen bis heute vom Glanz dieser Kunstrichtung. Hinter ihren charakteristischen Fassaden verbergen sich nicht selten wahre Gesamtkunstwerke, in denen Innenarchitektur, Plastik und Malerei eine harmonische Liaison eingehen. Im Jahr des Jugendstil-Jubiläums gibt es zahlreiche Touren und Themenführungen zu diesen Gebäuden. So können sich die Besucher*innen auf eine spannende Entdeckungsreise begeben und in die Belle Époque eintauchen. Ein besonderes Highlight ist das Hôtel Hannon im Vorort Saint-Gilles. Mehrere Jahre war das Wohnhaus, das der Architekt Jules Brunfaut für den Fotografen Édouard Hannon entwarf, für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. 2023 öffnet es wieder seine Tore. Brunfauts Inneneinrichtung konnte zum Teil rekonstruiert werden.
Ausstellungen, spezielle Museumsinitiativen, Festivals, Tagungen und Publikationen runden das Programm ab. So widmet das Musée Art & Histoire eine Sonderausstellung dem Palais Stoclet. Die Villa in Woluwe-Saint-Pierre atmet den Geist der Wiener Secession – konzipiert hat das Palais der österreichische Architekt Josef Hoffmann. Berühmteste Zutat der Innendekoration ist Gustav Klimts exquisiter Stoclet-Fries. Das BOZAR Brussels, Centre for Fine Arts, plant eine Ausstellung zum Thema »Victor Horta and the Grammar of Art Nouveau”. Und natürlich rollt auch das an den Architekten erinnernde Museum den roten Teppich aus: »Victor Horta, ceci n’est pas un architecte Art nouveau. Horta’s aesthetic vocabulary«, so lautet der Titel der Schau, die einen umfassenden Einblick in die Ästhetik des Ausnahmekünstlers verspricht.
Derweil untersucht die weitgefächerte Präsentation »Back to Nature 1900« im Brüsseler Stadtmuseum (Maison du Roi) die um 1900 populär werdende »Zurück zur Natur«-Bewegung – für viele Jugendstil-Vertreter*innen war die Abkehr von der als mechanisch und einfallslos empfundenen Industrialisierung eine maßgebliche Devise ihres Tuns. Wer erfahren will, welch weite Kreise die Art Nouveau zog, dem sei ein Abstecher zur Saint-Géry-Markthalle empfohlen: Dort finden über das ganze Jahr hin Veranstaltungen statt, die unter anderem demonstrieren, wie kulinarische Schöpfungen durch den revolutionären neuen Kunststil inspiriert wurden.
Brüssel markiert den Schwerpunkt des Art-Nouveau-Jahres, aber der Radius der zahlreichen Aktivitäten reicht weit darüber hinaus. So steuern mehrere belgischen Städte eigene Ausstellungen und Initiativen bei. Liège, Mechelen und Tournai beispielsweise profilieren sich im Zuge des Horta-Jubiläums mit eigenen Art-Nouveau-Aktivitäten. Und dank der internationalen Kontakte des Brüsseler »Réseau Art Nouveau Network« konnten auch Jugendstilzentren wie Bratislava, Budapest, Prag oder Wien in das Jubiläumsprogramm eingebunden werden.
Mehr Infos zum Brüsseler Art-Nouveau-Jahr gibt es hier.