Beim Stichwort »Impressionismus in der Malerei« kommen den meisten zuerst Namen wie Manet, Monet oder Renoir in den Sinn. Eine Verkürzung der historischen Tatsachen, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es etliche hervorragende Impressionistinnen. Eine von ihnen, Anna Boch, steht jetzt im Zentrum einer Ausstellung des Mu.ZEE.
175 Jahre nach der Geburt der belgischen Malerin (1848-1936) zeigt das Ausstellungshaus in Ostende eine Auswahl ihrer Landschaften, Seestücke und Genrebilder. Damit nicht genug: Die Kuratorin Virginie Devillez würdigt die aus begütertem Haus stammende Künstlerin auch als Sammlerin und Mäzenin – um 1890 hatte sie sich für den gleichaltrigen Kollegen Paul Gauguin ebenso engagiert wie für den fünf Jahre jüngeren Vincent van Gogh, deren Malerei damals weitgehend auf Ablehnung stieß.

Schon 2008 hatte es eine Ausstellung in der Schirn Kunsthalle über Impressionistinnen gegeben – sie setzt das Mu.ZEE nun in gewisser Weise fort. Bei der Frankfurter Schau hatte das Augenmerk auf den vier Malerinnen Marie Bracquemond, Mary Cassatt, Eva Gonzalès und Berthe Morisot gelegen. Anna Boch wäre damals eine gute Fünfte im Bunde gewesen – in Ostende bekommt die vielseitige Künstlerin nun einen großen Solo-Auftritt. Das Kunstmuseum aan Zee – so der vollständige Name der Institution, untergebracht in einem ehemaligen Kaufhaus, das der Architekt Gaston Eysselinck 1947 entwarf – bietet dafür einen idealen kunsthistorischen Hintergrund. Spezialisiert hat sich das Mu.ZEE auf die belgische Kunst des 20. Jahrhunderts, vor allem auf die flämischen Expressionisten. Einen Schwerpunkt bilden die in Ostende geborenen Maler James Ensor und Leon Spilliaert.
Zwei Werke in der Ausstellung »Anna Boch, een impressionistische reis« markieren die Pole des weitgespannten Œuvres der Künstlerin: zum einen das delikate Bildnis einer wohlsituierten, weißgekleideten Dame, die sich im Garten der Blumenpracht erfreut, zum anderen die herbe Rückenansicht einer Frau, die einen mächtigen Korb mit Fischen nach Hause schleppt. Anna Bochs Familie gehörte die Manufaktur Boch Frères Keramis im belgischen La Louvière (Villeroy & Boch), die Malerin wuchs in einem kunstsinnigen Ambiente auf: Ihr Bruder Eugène Boch, ebenfalls Maler, war mit Vincent van Gogh befreundet. Ihr Cousin, der Schriftsteller Octave Maus, gründete gleich zwei impressionistische Künstlergruppen. So verstand es sich von selbst, dass Anna in jungen Jahren Zeichenunterricht erhielt. Ihr Lehrer, Isidore Verheyden, erkannte ihr Talent und empfahl den Eltern, die Tochter zum Kunststudium nach Paris zu schicken. An der dortigen Académie Julian schrieb sich Anna Boch 1868 ein.

Die Zwanzigjährige, die in Begleitung ihrer Mutter an die Seine gekommen war, lebte also fortan in der Mutterstadt des Impressionismus. Ihren lichterfüllten Bildern, meist unter freiem Himmel und direkt vor dem Motiv entstanden, merkt man diese Vertrautheit mit der impressionistischen Landschaftsmalerei an. Davon zeugen in der Mu.ZEE-Ausstellung Gemälde wie »Chaumière en Flandre« (um 1891), »Berger et moutons« (1896) oder »Les falaises de l’Estérel« (circa 1910).
Aus zweierlei Gründen sollten Impressionismus-Fans die Ausstellung in Ostende nicht verpassen: Zum einen kann das Publikum dort bemerkenswerte, viel zu wenig bekannte Bilder entdecken. Zum anderen trifft man dort auf etliche Werke anderer impressionistischer Maler. Diese Bilder erwarb Anna Boch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für ihre Privatsammlung. 1890 beispielsweise kaufte sie in der Ausstellung der Société des Vingt (an der sie und ihr Bruder Eugène teilnahmen), ein in Arles entstandenes Spätwerk von Vincent van Gogh, den »Roten Weinberg« (1888). Ihre Kollektion erweiterte sie außerdem um Arbeiten von Maurice Denis, Paul Gauguin, Victor Horta, Paul Signac oder Théo van Rysselberghe. Virginie Devillez und ihre Co-Kurator*innen Stefan Huygebaert und Wendy Van Hoorde konnten also bei der Vorbereitung ihrer Ausstellung aus dem Vollen schöpfen.

Weil das Mu.ZEE einen großen Besucher*innen-Andrang auf die Anna-Boch-Hommage erwartet, empfiehlt es sich, ein Ticket im Vorverkauf über die Museumswebsite www.muzee.be zu kaufen. Im Anschluss an die Station in Ostende wandert die Ausstellung in das Musée des Beaux-Arts de Pont-Aven in der Bretagne.
»Anna Boch, een impressionistische reis«, Mu.ZEE, Ostende, 1. Juli bis 5. November 2023