Sie war eine der Gestalterinnen des Ruhrgebietes, wie es heute aussieht – ihr Name aber ist nur Insider*innen bekannt: Irene Wiese-v. Ofen trug maßgeblich dazu bei, dass Zollverein Welterbe wurde und die kulturelle Nutzung bekam, die es heute hat.
»Ich habe den Wunsch, den Menschen immer zu erklären, was ich warum tue«, so sagt es Irene Wiese-v. Ofen, während sie kerzengerade am Esstisch im hellen Eingangsbereich ihres Bungalows im Essener Süden sitzt und Tee serviert. Und das hat sie durchgezogen, ob im Gespräch mit dem damaligen russischen Staatspräsidenten Dmitri Medwedew oder mit Essener Bürger*innen. So unterschiedliche Gegenüber – und immer geht es um ihren Beruf, der zugleich ihre Leidenschaft ist: Stadtplanerin. Irene Wiese-v. Ofen war fast ihr gesamtes Berufsleben für die Stadt Essen tätig, angestellt seit 1962 im Stadtplanungsamt, ab 1978 dessen Leiterin und ab 1990 die Leiterin des Baudezernats – als zweite Frau, die in Deutschland ein technisches Dezernat leitete. 1994 kam mit dem Planungsdezernat ein zweites Dezernat hinzu, sie verschmolz beide zum Bau- und Planungsdezernat.
Es war die Zeit der Zechenschließungen und des großen Strukturwandels – und damit der Notwendigkeit, zu erklären. »Ich habe schon Bürgeranhörungen durchgeführt, als es noch gar nicht Vorschrift war«, betont die 89-Jährige. Die Schließung von Zechen zu akzeptieren, sei für die Bewohner*innen der benachbarten Viertel sehr schwierig gewesen. »Zechen waren ja nicht nur Arbeitsorte, es waren auch Heimatorte. Den Menschen verständlich zu machen, dass sich ganz viel ändern würde, war nicht einfach und bedurfte neben vielem Fachwissen vor allem der Empathie«, erinnert sie sich. Das war auch so, als die Zeche Zollverein unter Denkmalschutz gestellt werden sollte. Sie galt als »schönste Zeche der Welt«, gestaltet im Stil der Neuen Sachlichkeit von den Architekten Fritz Schupp und Martin Kremmer. Trotzdem war es ein nicht ganz einfaches Unterfangen, sie zu erhalten und unter Denkmalschutz zu stellen. Nach dem Berggesetz müssen die Zechengebäude nach Ende der Produktion abgebrochen und der vorherige Zustand wieder hergestellt werden – aber bei solch einem architektonischen Juwel?
Mit der Urkunde zum Bundespräsidenten
»Wir brechen ja auch keine Kathedralen ab, warum sollten wir die Zeche Zollverein abbrechen«, habe sie damals bei einer Stadtteilveranstaltung argumentiert – und war auf erstauntes Unverständnis gestoßen. Dass das Gelände mitsamt seinen Industrieanlagen später auch noch Weltkulturerbe wurde, ist in Teilen auch ihr zu verdanken. Sie war aufgrund ihrer beruflichen Expertise und ihrer Sprachkenntnisse Mitglied in einer UNESCO-Kommission für Konfliktfälle. Und damit sozusagen der erste Direktkontakt, der Zollverein bei der UNESCO schon vor dem offiziellen Bewerbungsverfahren bekannt machte. Sie war es auch, die dafür sorgte, dass die Urkunde 2002 von Minja Yang als Vertreterin der UNESCO übergeben werden konnte: »Ich kannte sie und weil sie nicht wusste, wie sie nach Zollverein kommt, rief sie mich etwas spät und verzweifelt an. Ich habe ihr sozusagen in letzter Minute den Flug nach Düsseldorf genannt und sie vom Flughafen abgeholt. Am Eingang habe ich sie aus dem Auto rausgelassen, wo sich die Festgäste schon versammelt hatten und ihr den Bundespräsidenten Johannes Rau gezeigt. Ich habe ihr gesagt, sie soll auf ihn zugehen und die Urkunde so halten, dass jeder sieht, dass sie etwas Wichtiges mitbringt.«
Auch bei ihrem Engagement für die UNESCO waren ihre Vermittlungsfähigkeiten gefragt, wie in Sankt Petersburg beim Zusammentreffen mit dem damaligen russischen Staatspräsidenten Dmitri Medwedew. Schon länger hatte die UNESCO protestiert, weil Gazprom ein Hochhaus in der Pufferzone um das Welterbe errichten wollte – in Russland zeigte man sich uneinsichtig. Als Teil der Delegation setzte Irene Wiese-v. Ofen auch hier auf die Erklärung: Wofür die Pufferzone gut ist, dass sie wichtig ist, um Weltkulturgüter zu bewahren und in diesem Fall besonders, dass sie auch das frühere Smolny-Kloster schützt, in dem Lenin nach der Rückkehr aus dem Exil Schutz fand. »Ich will die Leute nicht überfahren, sondern wach machen«, erklärt sie. Ob es genau das war, was Dmitri Medwedew überzeugte? Das Gazprom-Hochhaus jedenfalls steht heute an einer völlig anderen Stelle. Ähnliche Missionen gab es für die Stadtplanerin auch in anderen Städten wie Wien, Lima oder Graz.
Wo auch immer Irene Wiese-v. Ofen die Zeit dafür hergenommen hat, neben Vollzeit-Berufstätigkeit und großer Patchwork-Familie: Sie hat noch zahlreiche weitere Ehrenämter in deutschen und internationalen städtebaulichen Verbänden, war Mitbegründerin des Deutschen Bauherrenpreises und des Wettbewerbs Europan für junge Städtebauer. Sie ist im Vorstand der Stiftung Choreographisches Zentrum NRW und engagiert sich seit über 50 Jahren bei ZONTA International, einem Verband berufstätiger Frauen, der sich der Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen weltweit widmet.
Aber wie war ihre eigene Erfahrung als junge Frau Anfang der 1950er Jahre ausgerechnet ein Studium in der Männerdomäne Architektur zu beginnen – mit Praktikum auf dem Bau vorneweg? »Ich habe keine Unterschiede gemerkt«, sagt sie. Ein bisschen Durchsetzungskraft gehörte aber wohl schon dazu: »In das Büro habe ich mich nicht manövrieren lassen. Ich habe dem Bauleiter erklärt, dass ich Architektur studieren wollte und dass das für mich keine Frohn ist, ein Baupraktikum zu machen, sondern ich wollte sehen, wie das Haus entsteht, mir alles ansehen und ihn immer fragen dürfen. Da hat er gelacht und genauso haben wir es gemacht.« Architektur studiert hat sie von 1954 bis 1959 an der RWTH Aachen, mit städtebaulicher Nachausbildung, die damals ganz neu war und die sie als Fachschaftssprecherin sogar beeinflussen konnte. Promoviert über ein städtebauliches Thema hat sie etwas später und nach einem kurzen Ausflug in Architekturbüros 1962 bei der Stadt Essen angefangen. In Essen hatte sie schon die letzten anderthalb Schuljahre vor dem Abitur verbracht, weil ihr Vater hier endlich wieder in seinem Vorkriegsberuf arbeiten konnte.
Geboren wurde Irene Wiese 1935 in Berlin. Schon als kleines Kind, so hat ihre Mutter es notiert, hatte sie ein außergewöhnliches Orientierungsvermögen, konnte immer ganz genau beschreiben, wo sie gewesen war oder mit vier Jahren die ortsunkundige Verwandtschaft durch Berlin lotsen. Doch mit den ersten Luftangriffen kam noch eine weitere Prägung.
»Als Kriegskind habe ich so viel Zerstörung gesehen, da wollte ich Architektin sein, um Häuser und Straßen und Plätze und Heimat für Menschen zu schaffen.«
Irene Wiese-v. Ofen
Als Frauen und Kinder wegen der zunehmenden Luftangriffe aus Berlin evakuiert wurden, kam sie 1943 mit ihrer Mutter und älteren Schwester nach Rügen, nach dem Krieg dann auf abenteuerlichen Wegen mit einem Zwischenaufenthalt im Seuchenkrankenhaus wegen Typhus zur ältesten Schwester ihres Vaters in eine Kleinstadt im Westfälischen. Von dort aus ging es noch weiter aufs Land, in die Nähe von Münster, wohin sie jeden Tag mit dem Fahrrad zur Mädchenschule fuhr. Die Bildungsgrundlage, die sie dort bekam, prägte. Und es war ihr erster Einsatz als Vermittlerin: Sie nahm eine Brückenfunktion ein zwischen den zahlreich in der Klasse vertretenen Professorentöchtern und den Arbeiterkindern – als Tochter eines Diplom-Ingenieurs hatte sie Zugang zu beiden Welten. Der Wechsel nach Essen, in ein völlig anders strukturiertes Umfeld, sei nicht einfach gewesen. Aber das Stadtkind, das so lange auf dem Land gelebt hatte, war endlich wieder in einer richtigen Stadt: »Ich bin erstmal durch diese ganze Stadt gelaufen«, erinnert sich Irene Wiese-v. Ofen, »und habe meine Mitschülerinnen ein bisschen ausgefragt. Die haben mich ganz erstaunt angeguckt und haben gefragt: Wo bist du gewesen? Da waren wir noch nie!«

Die beste Grundlage also, um später selbst für und mit dieser Stadt zu planen. Auch wenn sie sich heute noch zu wundern scheint, dass sie als Frau 1978 die Leitung des Stadtplanungsamtes bekam und später ein Doppeldezernat mit mehr als 4000 Beschäftigten leitete. Eine Benachteiligung oder gar eine Konkurrenz möchte sie nicht sehen, lieber auf das Positive blicken: »Es sind oft unterschiedliche Zugangswege, die Männer und Frauen, gerade in so einem technischen Bereich haben«, erklärt sie, »wenn man das als eine Möglichkeit sieht, die eigenen Qualitäten einzubringen und die unterschiedlichen Herangehensweisen zu kombinieren, kann daraus ein besserer Entwurf werden.«
Auch als Vorgesetzte hat sie offenbar immer darauf geachtet, gemeinsam mit ihren Mitarbeiter*innen zu entscheiden – im Gespräch fällt oft das Wort »wir«, nur selten das »ich«. Ihre herausragende Eigenschaft auch als Vorgesetzte sei gewesen, immer zu erklären, was sie warum tue und was sie von anderen erwarte – »und das nicht in einem anordnenden Weg, sondern in einem einander respektierenden Weg, der aufeinander zuführt«. Sicher waren aber auch Fleiß und großes Engagement eine Grundlage für ihren Erfolg – das aber würde sie selbst wohl nicht über sich sagen.
Beeindruckendes Arbeitspensum
Die Arbeit war es auch, die ihr zu ihrer großen Patchwork-Familie – und ihrem eigentümlichen Doppelnamen – verhalf: 1980 heiratete sie ihren zweiten Mann, den Leiter des Amtes für Bodenordnung, Walter v. Ofen. Die Kolleg*innen hätten davon aber gar nicht unbedingt gewusst, denn auf der Arbeit hätten sie sich immer gesiezt – und waren meistens unterschiedlicher Meinung, wie sie lachend erzählt. Ihr zehn Jahre älterer Mann ist inzwischen verstorben, die Familienmitglieder aber sind eng verbunden: Einmal im Jahr mieten sie ein großes Ferienhaus und machen gemeinsam Urlaub. Zum 90. Geburtstag plant sie, bei sich zu Hause eine Familienfeier auszurichten, so 40 bis 60 Personen könnten es werden.
Auch mit fast 90 hat Irene Wiese-v. Ofen ein beeindruckendes Arbeitspensum: »Ich habe nicht das Empfinden, dass es zu viel ist«, sagt sie. Städtebau ist halt ihre Leidenschaft. Und Essen? Wie viel Irene Wiese-v. Ofen steckt nun noch in der Stadt? Auf diese Frage lächelt sie nur und es stellt sich heraus: fast alles! Ihre Aufgabe, als sie beim Planungsamt anfing, war einen ersten Flächennutzungsplan und einen ersten Bebauungsplan nach dem damals gerade neu erlassenen Bundesbaugesetz für die Innenstadt zu entwerfen. Der heutige Zustand der City hingegen betrübt sie: »Irgendwas muss mit den vielen leerstehenden Geschäften geschehen. Aber das ist eine große Herausforderung.« Und irgendwie scheint es sie in den Fingern zu jucken, das anzugehen.