Als das Festival Literaturdistrikt vor 18 Jahren anfing, da hieß es noch Literatürk und musste wichtige Pionierarbeit leisten: So genannte Bindestrich-Autoren, deutsch-türkische nämlich, hatten es schwer, im Literaturbetrieb ernst genommen zu werden. Überhaupt waren migrantische Themen in der Kultur ziemlich unterrepräsentiert. »Heute ist das Land ein anderes. Es gibt ein klares Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft«, sagt Leiterin Semra Uzun-Önder. Damit hat sich auch das Festival gewandelt.
»Heute haben Autoren mit Migrationsgeschichte bessere Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen«, denkt auch Fatma Uzun, die sich seit 2008 die Leitung von Literaturdistrikt mit ihrer Schwester teilt. »Aber es gibt auch die Gefahr, dass sie auf das Thema reduziert werden.« Das Festival, das traditionell im Herbst in Essen stattfindet – dieses Jahr vom 6. bis 15. November – will keinerlei verengten Blick. Es setzt schon länger nicht mehr in erster Linie auf den Transfer Türkei – Deutschland und auch die Migration ist als literarisches Thema oder Bestandteil der Autoren-Biographie keine Voraussetzung mehr.
Dafür hat das Team irgendwann angefangen, jede Ausgabe unter ein Motto zu stellen. Dieses Jahr lautet es »noch einmal l(i)eben« und Leiterin Semra Uzun-Önder ergänzt den Halbsatz mit »bevor die Welt untergeht…« als sie es ausspricht. »Krieg, Klimawandel, der Rechtsruck. Ich höre immer pessimistischere Stimmen in dieser Konstellation aus Katastrophen, die es vorher nicht gegeben hat. Ob man hier noch leben kann: In dieser Welt? In Deutschland unter der AfD?«
Die Schwestern in Leitungsposition wollten diese Atmosphäre aufgreifen – aber nicht bloß, um schlechte Stimmung zu verbreiten, sondern auch, um nach Lichtstrahlen am Horizont zu suchen. So haben viele der vorgestellten Bücher zwar dystopische Themen, die Autorinnen und Autoren malen sich eine Zukunft aus, in der Themen, die uns heute beschäftigen, längst zur Katastrophe geführt haben. Aber sie sind nie nur düster. Zum Beispiel in Viktor Martinowitschs Roman »Nacht«: »Blackout in Mitteleuropa. Die Rotation der Erde hat aufgehört. Es gibt keinen Strom mehr. Wasser ist aufgrund einer Veränderung der Atmosphäre nur stundenweise verfügbar. Öl und Kohle brennen nicht mehr, selbst Kompasse funktionieren nicht. Minsk ist zerfallen in Territorien sich gegenseitig bekriegender Clans.« So beschreibt der Europa Verlag die Handlung.
Dystopien mit Hoffnung
»Der Autor stammt aus Belarus und lebt dort und starken Sanktionen. Er darf nicht in den Sozialen Medien aktiv sein, seine Bücher im Land nicht veröffentlichen«, erzählt Semra Uzun-Önder. »Er nimmt eine Odyssee auf sich, um nach Essen zu kommen. Es gibt derzeit keine Flüge aus Belarus nach Deutschland.« Trotzdem schreibe er in seinem dystopischen Roman, aus dem er am 12. November im Museum Folkwang liest, nicht nur von nachtschwarzer Kälte und Hoffnungslosigkeit. »Das Buch ist auch komisch und es gibt Hoffnung – durch die Literatur und die Liebe«, sagt die Festivalleiterin.
Ilija Trojanow, der Literaturdistrikt am 6. November im Filmstudio Glückauf im Essener Stadtteil Rüttenscheid eröffnet, bezeichnet sich selbst als »Weggefährte des Festivals«. Auch der Wiederkehrer hat über die Zukunft geschrieben. In seinem Roman »Tausend und ein Morgen« hat sich allerdings anscheinend alles zum Guten gewendet: Die Menschen haben sich ihrer Sorgen entledigt und können sich dank neuester Technik der Aufgabe widmen, auch die Vergangenheit zu einem Ort ohne Erniedrigung, Ausbeutung oder Kriege zu verwandeln. Sie gehen auf Zeitreise.
Protagonistin Cya reist ins 18. Jahrhundert zu den Piraten in der Karibik oder taucht mitten in der Russischen Revolution auf. Mit ihr exerziert der Autor die philosophische Frage durch: »Ist Geschichte nicht das, was anders hätte verlaufen müssen?« Doch was sind denn eigentlich die (negativen) Umschlagspunkte in der Zeit? Und wie lässt sich vorhersehen, wie eine Veränderung in die Zukunft wirkt?
Bei der Lesung »Street Cop« mit Clemens Meyer am 10. November im LeseRaum in der Akazienallee hat sich die Welt jedenfalls wieder verdunkelt: »In einer Welt der Roboter und fliegenden Autos zieht ein altmodischer Streifenpolizist durch New York. Er sehnt sich nach den Tagen, als die Zeit noch linear verstrich und Häuser nicht plötzlich ihren Ort wechselten.« Die Lesung ist nicht wegen ihrer Zukunftsvision besonders außergewöhnlich, die zum Beispiel an Stoffe wie »Blade Runner« erinnert. Sie ist es, weil Protagonist Clemens Meyer »nur« der Übersetzer ist – und die Geschichte mehr eine Graphic Novel als ein Roman. Robert Coover hat sie geschrieben und den legendären Art Spiegelmann (»Maus«) gebeten, sie zu illustrieren. Clemens Meyer wird am Abend auch Auskunft geben über dieses irgendwo zwischen Comic und bebilderter Erzählung angesiedelte, ungewöhnliche Projekt.
Ein Abend ist ganz direkt dem Festivalmotto gewidmet: Die Leiterinnen haben die Autorin und Spiegel-Kolumnistin Samira El Ouassil und den Wolfgang M. Schmitt, der auch Kritiker und Podcaster ist, gebeten, sich mit dem Thema »noch einmal l(i)eben« auseinanderzusetzen. Am 11. November diskutieren sie in der Essener Zentralbibliothek weniger die multiplen Krisen als solche, sondern sie sprechen darüber, welchen Einfluss ein solches Umfeld auf den Menschen haben kann und wie man damit umgehen kann. Müssen wir uns beeilen noch mal zu leben und zu lieben, bevor alles zu Ende ist? Oder ist es am Ende alles nur Schwarzmalerei?
verschiedenen Spielstätten in Essen
6.-15. November