Das Ensemble Chorwerk Ruhr ist 25 Jahre alt und feiert am 22. Juni in der Christuskirche Bochum Jubiläum. Florian Helgath spricht im Interview über seine außergewöhnlich große künstlerische Freiheit, Volksmusik auf dem Laufband und kommende Projekte.
Bei der morgendlichen Probe im Dampfgebläsehaus an der Jahrhunderthalle Bochum ist Leiter Florian Helgath maximal entspannt. Er vertraut auf seine Sängerinnen und Sänger und lässt sie erst einmal die kompletten Liebeslieder-Walzer von Brahms durchsingen. Dabei sammelt er und geht dann in aller Ruhe in die Detail-Arbeit. Auch im Interview strahlt er eine große Ruhe aus – und eine Offenheit und Neugier.
kultur.west: Herr Helgath, warum haben Sie sich 2011 bei Chorwerk Ruhr beworben? Hatte das Ensemble damals schon einen großen Namen in der Musikwelt?
HELGATH: Mir war es natürlich ein Begriff. Mir war bewusst, dass es im Ruhrgebiet diesen Kammerchor gibt, der ganz spezielle Dinge macht, insbesondere zusammen mit der Ruhrtriennale. Ich war damals noch sehr jung im Business und es war eine Ehre, das Angebot zu bekommen, hier der Chef zu werden. Ich habe es seit 14 Jahren nie bereut.
kultur.west: Ist Ihnen auch das Ruhrgebiet eine Art Heimat geworden?
HELGATH: Heimat ist ein großer Begriff. Musikalisch ist es ziemlich schnell meine Heimat geworden, mittlerweile auch außermusikalisch, weil ich so oft hier bin. Aber man hört es ja an meiner Sprache: Ich komme aus Bayern und bin da auch sehr verwurzelt. Ich wohne nach wie vor mit meiner Familie in München. Kulturell gibt es im Ruhrgebiet allerdings tolle Möglichkeiten. Allein, dass dieser Chor vom Land in dieser Weise unterstützt wird. Ich kann mich hier frei ausleben und erlebe auch vom Publikum eine große Experimentierfreude. Wenn wir mal nicht Brahms oder Bach aufs Programm schreiben, kommen die Leute trotzdem, weil sie denken: Das ist das Chorwerk Ruhr, das wird schon gut sein. Was uns auch zugutekommt, ist die hohe Chor-Dichte in der Region. Dass es die gibt, kann man immer sehen, wenn wir A-cappella-Konzerte geben, die auch voll sind. Meine Theorie ist, dass die Leute am ehesten auf ein Chorkonzert gehen, wenn ein Orchester mit dabei ist. Zu A-cappella-Konzerten kommen über 50 Prozent Leute, die selbst im Chor singen.
kultur.west: Hat es Chormusik im Klassik-Betrieb generell schwerer als konzertante Aufführungen?
HELGATH: Ich denke nicht, weil wenn man jemanden hört, der vor einem steht und singt, dann ist das doch die natürlichste Ausdruckskraft, die man haben kann. Wenn man sich auf pure Stimmen einlässt, die in unterschiedlichster Art von Musik zusammenfinden, dann geht das ungefiltert raus – und im besten Fall auch rein.
kultur.west: Wie früh war Ihnen selbst klar, dass Sie in Richtung Chormusik gehen möchten?
HELGATH: Die Faszination kommt sicher aus der eigenen Biographie, was mir aber lange nicht klar war. Als ich mit neun oder zehn Jahren bei den Regensburger Domspatzen angefangen habe als Knabensopran, da hat es mich so richtig gepackt. Verstanden und gemerkt habe ich es erst mit Anfang/Mitte 20. Die Chormusik war mir so nah und vertraut, dass ich eine zeitlang andere Sachen machen wollte. Ich war im Pop- und Jazzbereich unterwegs, wollte Musiklehrer werden, Instrumentallehrer. In meiner Familie hatte ich auch viel Volksmusik gemacht, ganz traditionell bayrisch. Erst mein Professor an der Hochschule brachte mich dann darauf: »Warum dirigierst du eigentlich nicht und gehst in Richtung Chorleitung? Du bringst doch alles mit!« Da dachte ich: »Warum eigentlich nicht?«
kultur.west: Sie unterrichten mittlerweile selbst an Hochschulen. Was muss ein Chorleiter mitbringen?
HELGATH: In einigen Wochen habe ich wieder Aufnahmeprüfung für neue Studierende, die Chorleitung lernen wollen. Ich stelle mir dann selbst die Frage: Was müssen die mitbringen? Musikalisch muss man natürlich mitbringen, dass man Klavier spielen, singen und gut hören kann. Das ist aber nicht alles. Es gibt immer wieder Menschen, bei denen man merkt, sie können unheimlich toll Klavier spielen und singen, aber dann stehen sie bei der Aufnahmeprüfung vor dem Chor und ich merke: Da kommt nichts. Derjenige kann vielleicht Chorsänger oder Solist werden, aber der Platz da vorne ist nicht richtig. Da ist nicht die Qualität, authentisch andere mitzureißen und zum Singen zu bringen. Das kann ich auch schwer unterrichten. Das muss ich sehen.
kultur.west: Chorwerk Ruhr ist in den vergangenen Jahren offenbar zu einem Chor geworden, der alles kann. Gibt es eine besondere Qualität, ein spezielles Profil?
HELGATH: Als ich den Chor übernommen habe, war er ein Vokalensemble bis Kammerchor, 16 bis 24 Leute, also relativ klein. Er hat schon alle Epochen besungen, aber es gab einen Schwerpunkt auf der Moderne. Ein Ausnahmeprojekt war kurz vor meiner Zeit die Oper »Moses und Aron«, wo 80 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne standen. Das war eine Sensation und Chorwerk Ruhr plötzlich in aller Munde. Ich hatte keinen Masterplan, aber eine große Lust, immer wieder Neues auszuprobieren. Ich wollte nicht das Spezialensemble für moderne Musik werden. Ich habe oft den Dialog mit der Alten Musik gesucht. Da kann in einem Programm etwa eine Komposition aus dem 16. Jahrhundert auf eine aus dem 21. Jahrhundert treffen.
kultur.west: Ist Bochum ein Zentrum für das Ensemble? Hier finden Proben im Dampfgebläsehaus und regelmäßig Konzerte in der innerstädtischen Christuskirche statt.
HELGATH: Bei den Proben wechseln wir zwischen Essen und Bochum, aber Bochum ist auf jeden Fall wichtig. Für unsere A-cappella-Aufführungen ist die Christuskirche ein super Ort. Im Fußball-Jargon würde man sagen: Das ist unsere Heimspielstätte. Das Publikum ist immer so offen und auf unserer Seite, feuert uns an. Mit unserem Jubiläumsprogramm »In Frieden« sind wir am 22. Juni dort. Ich mag die Akustik – gerade bei A-cappella-Programmen ist es toll, wenn sie ein bisschen was dazu gibt an Raum.
kultur.west: Haben Sie Lieblings-Chorwerke?
HELGATH: Was ich an meinem Job so sehr liebe, ist, dass es so unglaublich viel tolle Musik gibt. Die Werke, an denen ich aktuell arbeite, sind meist meine Lieblingsstücke.
kultur.west: Aber wenn Sie jetzt Zuhause sind und Musik einschalten?
HELGATH: Dann ist es wenig Klassik, eher Jazz, oder so ganz back to the roots höre ich dann traditionelle bayrische Musik beim Joggen auf dem Laufband. Dann Chormusik zu hören ginge überhaupt nicht. Da springt viel zu sehr der Analysemodus an und aus dem muss ich ja auch mal raus. Mein Vater hat mich zum Volksmusik-Spielen gebracht, mit meiner Schwester waren wir zu dritt, meine Mutter hat sich rausgehalten. Wenn ich diese Musik höre, rührt das an frühkindliche Erinnerungen, wie auch Gerüche, die man nie vergisst. Wenn ich diese Musik einschalte, passiert sofort etwas bei mir, da finde ich ganz schnell zu einer Erdung.
kultur.west: Haben Sie mit Chorwerk Ruhr schon diese Art Volksmusik aufgeführt?
HELGATH: Nein, nein.
kultur.west: Das ist zu privat?
HELGATH: Vielleicht.
kultur.west: Was fasziniert Sie an David Langs Komposition »Before and after nature«, die Sie als Deutsche Erstaufführung für die Ruhrtriennale erarbeiten?
HELGATH: Musikalisch hat es etwas Meditatives. Es erinnert an die Minimal Music von Philip Glass: Es passiert vordergründig nicht viel. Da sind Patterns, die sich wiederholen und leicht verändern und eine große Kraft entwickeln. Wenn man wirklich die Ruhe findet und diese Musik in sich rein lässt, dann passiert es, dass man wie wegfliegt, Raum und Zeit vergisst. Man kennt diese Musik vor allem als Instrumentalmusik, aber als Vokalmusik hat sie noch einmal mehr Kraft. Die Verbindung mit den Visuals, diesen starken Naturbildern von Tal Rosner, der Musik des Instrumentalensembles Bang on a Can All-Stars und dem Raum der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck – das alles stelle ich mir sehr stark vor.
kultur.west: Wo kann es noch hingehen mit Chorwerk Ruhr?
HELGATH: Ich lebe eigentlich mit dem Chor gerade im Moment. Schon als ich 2011 angefangen habe, habe ich gesagt: Ich habe keinen Masterplan. Ich funktioniere nicht so. Ich mache die Planung und auch sehr sorgfältig, recherchiere viel, entdecke Stücke oder neue Komponisten, denen wir Aufträge geben, aber wir lassen uns manchmal auch treiben. Es tauchen dann auch ganz klassische Stücke auf, von denen wir denken: Lasst uns einmal unseren Beitrag dazu leisten. Deshalb werden wir zum Beispiel bald eine Matthäus-Passion machen – natürlich in einem Industrieraum, aber wir wollen da das Rad nicht neu erfinden, nur weil wir Chorwerk Ruhr sind. Ich habe glücklicherweise eine große künstlerische Freiheit, wie ich sie bei kaum einem Chor dieser Qualität kenne.
kultur.west: Unerfüllte künstlerische Träume gibt es also keine?
HELGATH: Nein, eigentlich nicht. So eine Sehnsucht entsteht ja meist nur in irgendeiner Art Vakuum. Und das fühle ich überhaupt nicht.

Zur Person
Florian Helgath kam 1978 in Regensburg zur Welt, wo er im berühmten Knabenchor der Domspatzen mitsang. Er studierte an der Hochschule für Musik und Theater in München und leitete von 2009 bis 2015 den Dänischen Rundfunkchor Kopenhagen. Von 2008 bis 2016 dirigierte er den Via Nova Chor München. Seit 2020 ist er Professor für Chordirigieren an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln und seit 2024 auch an der Hochschule für Musik und Theater München. Chorwerk Ruhr leitet er seit 2011.
22. Juni: »In Frieden – Jubiläumskonzert 25 Jahre Chorwerk Ruhr«
Christuskirche Bochum
17. bis 19. September: »Before and after nature«, Ruhrtriennale
Maschinenhalle Zweckel Gladbeck