TEXT: STEFANIE STADEL
Ihr Gesicht sieht man nicht. Nur die langen roten Haare, wie sie übers weiße Laken wallen. Die nackte junge Frau auf dem zerwühlten Bett krallt verzweifelt ihre Finger in die Pracht. Wie es aussieht, ist ihr Liebhaber gerade den zerknautschten Kissen entstiegen. Nun quält sie wohl das schlechte Gewissen. Und damit das auch jeder erkennt, lässt der Maler im finsteren Grund über der Sünderin ein paar Frauenakte – Geistern gleich – um ein Gorgonenhaupt tanzen. Als Münchens braves Bürgertum das provokante Großformat 1896 zu Gesicht bekam, brach ein Skandal los: Noch immer hing man an den unverfänglichen Motiven des Biedermeiers. Da musste ein derart erotisches, trotz aller Symbolhaftigkeit doch auch explizites Bild, als Zumutung empfunden werden.
Der junge Schöpfer der Unverschämtheit wurde damals über Nacht berühmt. Heute ist sein Name indes kaum mehr bekannt: Leo Putz geriet nahezu in Vergessenheit und teilt sein Schicksal mit einer ganzen Reihe einst angesagter Zeitgenossen, die ähnlich dachten und malten wie er. Nicht viele der Symbolisten und ihrer Vorläufer hierzulande blieben im Gedächtnis. Die Bielefelder Kunsthalle vereint nun beide Sorten – die Stars und die Vergessenen – in einer großen Überblicksausstellung zum deutschen Symbolismus. Bald 15 Jahre ist es her, dass man das Thema zuletzt in Frankfurt so umfassend anging.
In Bielefeld begegnet man antiken Göttern, Rittern, Faunen und Feen. Taucht ein in erhabene Landschaften. Trifft auf biblische Gestalten und mythologische Mischwesen, verruchte Sünderinnen und schöne Jünglinge, die sich wohlfühlen in absolutem Einklang mit der unberührten Natur. Und schnell wird klar, warum der Symbolismus es in den vergangenen 100 Jahren so schwer hatte: Seine illustren, opulenten, fantastischen Bilderzählungen lassen sich nicht ohne weiteres einordnen in die populäre Kurzfassung der Kunstgeschichte mit ihrer Vorstellung einer geradlinig verlaufenden Entwicklung von Impressionismus über Kubismus und Expressionismus in die Abstraktion.
Im letzten Jahrzehnt haben Ausstellungen immer wieder an jenem eingleisigen Modell gekratzt, das allein die Befreiung von Farbe und Form zum Maßstab der Moderne machte. Überall entdeckte man Vorläufer, die abseits dieser bekannten Wege fortschritten, ohne dabei in der Sackgasse zu landen. Nicht zu übersehen waren und sind dabei die Symbolisten, deren Wiederentdeckung bereits voll im Gange ist. Man kann wohl sagen, dass die Bielefelder Schau mit ihrer im Untertitel formulierten These einer »anderen Moderne« offene Türen einrennt. Was die Suche nach Antworten in der Kunsthalle aber kaum weniger spannend macht.
ES SIND DIE IDEEN
Was zeichnet diese »andere Moderne« aus? Wie konnten die deutschen Symbolisten der rasanten künstlerischen Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert bringen würde, auf die Sprünge helfen? Die Schau hält etliche Erklärungen bereit. Schon im Entree, wo Ludwig von Hofmanns »Idolino« von 1892 als makellos schöner Knabe unbekleidet in arkadischen Frühlingsgefilden posiert. Hier braucht es noch ein entrücktes »Götterbildchen«; ein gutes Jahrzehnt werden die Expressionisten das Thema ins eigene Hier und Jetzt transportieren, wenn sie sich mit ihren weiblichen Modellen befreit an den Moritzburger Teichen tummeln – in idealer Eintracht mit der Natur, wie es die Symbolisten vorgemacht hatten. Es ist nicht die Form. Es sind Ideen, die Putz, Hofmann und all die anderen zu frühen Modernen machen. Ihr Blick ins Innere, der sie Wassily Kandinskys Vorstellung einer neuen »geistigen« Kunst gar nicht so fern erscheinen lässt.
Interessant dabei scheint, dass die Seelenmalerei der Symbolisten hierzulande gleichzeitig mit dem heimischen Impressionismus die Runde machte, der erst vor wenigen Jahren Ausstellungsthema in Bielefeld war. Dort wird die Wahrnehmung des Äußeren hochgehalten, hier der Ausdruck eines Inneren zum wesentlichen Ziel. Während etwa Arnold Böcklin antike Dichter liest und sich in stundenlanger Betrachtung von Meer und Bergen ergeht, um aus diesen Erfahrungen in seinen Bildern eine eigene Idee von Welt zu schöpfen, konzentrieren sich seine impressionistischen Kollegen auf den momentanen Augeneindruck – eine Lichtsituation, Reflexe im bewegten Wasser, das Schattenspiel der Blätter auf dem Boden.
Doch gibt es auch Gemeinsames: Beide Stilströmungen nehmen von Frankreich ihren Ausgang und beide sind in ihrer deutschen Spielart sehr viel stärker dem Realismus verpflichtet. Die deutschen Impressionisten bleiben bei der Formauslösung moderat. Und die deutschen Symbolisten nehmen sich kaum etwas an von den Flächenformen ihrer französischen Kollegen.
ES SIND DIE THEMEN
Neu war weniger die Art und Weise, wie sie malten. Sondern vielmehr die Themen und deren Interpretation. Zuweilen skandalös wie die Rothaarige im Liebesnest. Manchmal auch beißend wie Lovis Corinths Bacchanten-Trupp von 1898: Da sieht man fünf schwankende Gestalten nach dem Gelage heimwärts ziehen, allesamt gezeichnet vom exzessiven Alkoholgenuss. Vorn suchen zwei ausgelassene Mänaden Halt am beleibten Satyr, dem es allerdings selbst schwer fällt, aufrecht zu gehen. Was den Lüstling aber nicht davon abhält, der Begleiterin zu seiner Linken unumwunden an die Brust zu greifen. Richtig pikant wird die Geschichte dadurch, dass in Corinths Gestalten kaum einer das antike Personal wiedererkennen wird. Durch Ausdruck, Gehabe und in ihrer realistischen Körperlichkeit erinnern sie viel eher an Damen und Herren der gründerzeitlichen Gesellschaft.
Die Themen und gelegentlichen Tabubrüche der Symbolisten erzürnten zuweilen. Doch währte der Aufruhr nicht lange. Sehr bald hatten auch ihre Werke einen festen Platz in heimischen Wohnzimmern. Denn sie trafen sehr wohl den nachdenklichen Zeitgeist, der sich einer als oberflächlich empfundenen Gesellschaft gegenüber sah. In jener Epoche tiefgreifender Veränderungen durch Industrialisierung, Technisierung, rasantes Wachstum der Städte boten die Bilder der Symbolisten eine Zuflucht in alte Mythen und Märchen, in eine ideale, oft unberührte Natur, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht, einem eigenen, vom Menschen unabhängigen Rhythmus folgt. Wenn der Schnee im Frühling schmilzt, wenn Herbststürme toben, ein Blitz in die Eiche schlägt, sich Gewitterwolken über dem Meer auftürmen.
Meist sind solche Stimmungslandschaften menschenleer. Und dort, wo ausnahmsweise Architektur auftaucht, unterstreicht sie den Grundton der Szene. Verweist etwa wie die alte italische Kultstätte in Max Klingers »Nemi« auf eine mythisch ferne Zeit. Neben den kleinen Fluchten in die Natur zählen Frauen zu den liebsten Sujets der Symbolisten. Topaktuell dabei das teuflische oder lasterhafte Weib – wie es in Franz von Stucks »Sünde« verführerisch daliegt, von einer dicken Schlange mehrfach umwunden. Trotz ihres schlechten Gewissens ist wohl auch die Skandalfrau von Putz der Kategorie »Femme Fatale« zuzurechnen.
Gleich nebenan ist in Bielefeld ein ganzes Ausstellungskapitel den »Guten Frauen« vom mütterlich-züchtigen Schlag gewidmet. Allen voran das sorgende »Sonnenkind« mit Baby auf dem Arm, gemalt von Dora Hitz. Nicht bedrängt durch gespenstische Tänzerinnen, sondern umschmeichelt von einem Meer weißer Lilien zeigt es sich. Das Haupt umstrahlt ein heller Schein – da ist die Madonna nicht fern. Es kann also auch sittsam zugehen bei den Symbolistinnen.
Bis 7. Juli 2013. Kunsthalle Bielefeld. Tel.: 0521/32999500. www.kunsthalle-bielefeld.de