Schmutz und schwarzer Schimmel an den Wänden. Beton, der bröckelt. Die Teerdecke hat riesige Löcher, und am Rand ist eine leere Cola-Dose liegen geblieben. Im Duisburger Matena-Tunnel herrschte kaum Verkehr, als Laurenz Berges 2010 seine schwere Großformatkamera aufbaute. Ungestört konnte er mit langer Belichtungszeit vordringen in die Tiefe der maroden Röhre. Ein Bild, wie es heute nicht mehr möglich wäre. Denn inzwischen wurde der unterirdische Weg zwischen Bruckhausen und Alsum verfüllt – mit 15.000 Tonnen Hüttensand. »Eine irre Vorstellung«, wirft Berges ein. »Ein Bauwerk, das noch existiert – das im Ganzen erhalten, aber komplett zugeschüttet ist.«
Auf dem Buchdeckel wirkt Berges Tunnel-Foto, als wolle es
den Betrachter hineinziehen, zwischen die Seiten des Künstlerbuches, das die Ausstellung
im Museum Quadrat in Bottrop begleitet. Mit etwas Mühe hat Berges die Folie
entfernt und den frisch gedruckten Band in seinem Düsseldorfer Atelier auf den
Tisch gelegt. »4100 Duisburg« – dieser Buch- und Ausstellungstitel weist zurück
auf die Zeit vor der großen Postleizahlen-Reform. auf eine Zeit, als der Tunnel noch gut
frequentiert und überhaupt vieles ganz anders war in dieser Gegend. Als die
Klingelbretter noch geputzt wurden und auf den Fassaden nicht der Schmutz,
sondern die Farbe den Ton angab.
Geisterhafte Gegenwart
Um 1960 zählte Duisburg zu den deutschen Kommunen mit dem
höchsten Prokopfeinkommen. Diese Vergangenheit schwingt mit in Berges Bildern, viel
präsenter aber ist die stille, leere, manchmal geisterhafte Gegenwart. Langsam
beginnt der Künstler in dem Duisburg-Buch zu blättern. Der Blick fällt in
menschenleere Straßen und auf vernagelte Fenster. Man sieht Klingelknöpfe, neben
denen oft das Namensschildchen fehlt, schaut in schäbige Flure und
heruntergekommene Treppenhäuser. Irgendwo hat jemand seine Wäsche auf ein
Gerüst zum Trocknen aufgehängt.
Vor gut zehn Jahren hatte Berges mit seinen fotografischen Erkundungstouren im Ruhrgebiet begonnen. Anlass war damals Thomas Weskis Einladung an den Fotografen, sich an der Gruppenausstellung »Ruhrblicke« zu beteiligen. Doch wie es Berges Art ist, genügte ihm der kurze »Ruhrblick« nicht. Es dauert lange, bis er sich auf ein Projekt einlässt, und noch länger, bis er sich wieder davon trennen kann. In den Jahren nach Weskis Ausstellung konzentrierte sich Berges nun aber ganz auf Duisburg. »Für mich ist es die interessanteste Stadt im Ruhrgebiet – optisch und auch aufgrund der Geschichte«, so der Künstler, den es mit seiner Kamera besonders in jene Teile der Stadt zog, die einst Standort der Schwerindustrie waren und die nun auf besondere Weise vom Strukturwandel betroffen sind.
Fremde vertraute Welt
Mit dem Auto sei er in 20 Minuten dort: »Eine fremde vertraute
Welt vor der Haustür.« Sie bot Berges ganz eigene Motive: Vergilbte
Lichtschalter, Risse im Putz, verstaubte Straßenschilder, wucherndes Grün am Rheinufer.
Der Fotograf zeigt Fragmente der Natur, fasst architektonische Kleinigkeiten
ins Visier. Er versucht, die Fülle im Detail zu erfassen, und rückt deshalb oft
recht nah an den Gegenstand heran. Man schaut diese Bilder lange und gerne an, entdeckt bei aller Leere und Schwere
doch immer wieder auch Schönheit in der Stille, im wohl gewählten Ausschnitt,
im besonderen Licht, den eigenartig matten Farben.
Was genau sucht Berges? Und wie findet er seine Motive?
»Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich suche. Ich fahre los, stelle den Wagen
ab, und dann gehe ich spazieren«, sagt der Fotograf, während er am Tisch sitzt
und bedächtig die Seiten umschlägt. Man kann sich gut vorstellen, wie er wieder
und wieder zurückkehrt an denselben Ort. Wie er geduldig durch dieselben
Straßen schweift und schaut, und irgendwann mit dem Fotoapparat anrückt.
Das muss ein ungewöhnlicher Anblick sein. Ein Fotograf, der heute noch eine Großbildkamera anschleppt, auf das massive Stativ montiert und dann seinen Kopf unter ein schwarzes Tuch steckt. Berges macht nun vor, wie das geht und lobt dabei die Nachhaltigkeit seines Apparats, den er vor 30 Jahren gebraucht erstanden hat und der noch immer funktioniert. Damals studierte er noch – zunächst in Essen, später dann in der berühmten Klasse von Bernd und Hilla Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie.
In den 90 Jahren war Berges mit dieser Kamera unterwegs in Ostdeutschland, wo er sich in den verlassenen Kasernen der Sowjetarmee umsah. Später fotografierte er Ortschaften und Wohnhäuser zwischen Köln und Aachen, die dem Braunkohletagebau weichen mussten. Wie dort, geht es auch in Duisburg um den Verlust, das Verlassen. »Die Stadt hat in vielen Bereichen etwas Entleertes«, sagt er.
Im Garten von Herrn Scholz
Inzwischen ist man beim Blättern im Garten von Herrn Scholz
angekommen, den Berges immer wieder
aufsuchte. Amüsiert erzählt er nun vom Schock, als er einmal zum Fotografieren
herkam und die verwitterten Möbel dort plötzlich frisch geschrubbt und
strahlend weiß vorfand: »Das Bild konnte ich vergessen«. Monate habe er nun
warten müssen, bis Tisch und Stühle wieder die nötige Patina angesetzt hatten.
Wird er wieder herkommen und spazierengehen zwischen Gärten und Häusern in Marxloh, Ruhrort, Homberg, Bruckhausen? Oder ist die Werkgruppe mit dem Buch und der Ausstellung für Berges abgeschlossen? Nach zehn Jahren sei es vielleicht auch wieder einmal Zeit, etwas Neues anzufangen, überlegt er, mehr zögernd als entschlossen. Berges wäre wohl nicht Berges, wenn er Herrn Scholz auf seinen alten Gartenstühlen sitzen ließe, um sich voll Elan in neue alte Geschichten zu stürzen. Alles braucht seine Zeit.
Die Ausstellung: Laurenz Berges. 4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert. Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop. Bis 28. Juni 2020.
Das Buch: Laurenz Berges: 4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert; Ausstellungskatalog Museum Quadrat Bottrop; Hrsg.: Heinz Liesbrock, 2020. ISBN: 978-3-96098-767-3