Man kennt sie eher von Lesebühnen zwischen Bochum und Berlin. Neuerdings ist Lütfiye Güzel aber auch in kleineren Orten anzutreffen: In Hünxe, Hamminkeln oder Haltern am See… Denn mit der Grand Snail Tour der Urbanen Künste Ruhr zieht die gefeierte Poetin aus Duisburg drei Jahre lang durchs Revier und bedenkt jeden einzelnen der 53 Orte mit einem eigenen Gedicht. Was bewegt Güzel, wenn sie reist und schreibt, wenn sie Zeitung liest und reihenweise Wörter durchstreicht?
kultur.west: Die Schauplätze wechseln, und das Programm der Grand Snail Tour ist von Ort zu Ort ein neues. Nur Sie sind immer dabei – wie fühlt man sich als ständige Begleiterin?
GÜZEL: Gut! Ich mag diese Idee hinter der Grand Snail Tour, on the road zu sein und hinzugehen, wo die Leute sind – nicht zu warten, dass sie kommen. Es ist schön, Menschen zu besuchen. Obwohl ich ein großer Fan des Ruhrgebiets bin, wusste ich selbst nicht, dass all diese Städte dazugehören. Es gefällt mir, dass die Grand Snail Tour nicht den Metropolen-Gedanken hochhält, sondern eben auch die kleineren, leiseren Schauplätze wertschätzt.
kultur.west: Jede einzelne Station bekommt von Ihnen ein individuelles »Local Blackout«. Wie gestaltet sich der »lokale« Bezug?
GÜZEL: Grundlage dieser Arbeiten ist immer die Lokalausgabe der Tageszeitung. Das ist mir wichtig. Ich schwärze dann weite Teile des Texts. Lasse nur einzelne Wörter stehen, die in neue Zusammenhänge treten, neue Sätze, Gedichte, Gedanken bilden.
kultur.west: Bei den bisherigen Stationen waren auf den Blackouts dann Sätze wie diese zu lesen: »am liebsten ein Dilemma«, »die Erfahrungen im Interesse aller stornieren« oder »Leerlauf – wieder der Liebe wegen gestorben«. Wie reagiert das Publikum?
GÜZEL: Zwei, drei Leute haben mich angesprochen. Meinten, dass sich ihnen der Sinn nicht erschließe. Wollten wissen, was das heißt und ob es sich um Gedanken oder Zitate handele. Ich freue mich über solche Fragen, auch wenn ich sie nicht beantworten kann. Es gibt ja Künstler*innen, die ganz viel erzählen – über das Warum und Weshalb, über ihre Visionen. Ich tue mich da ein bisschen schwer, weil ich sehr intuitiv arbeite, die Dinge gerne einfach so im Raum stehen lasse und schaue, was passiert. Es ist auch nicht so, dass ich mich für meine »Local Blackouts« näher mit der jeweiligen Stadt befasst hätte – das wäre wieder zu viel Denken und würde mich manipulieren.
kultur.west: Das Intuitive begegnet einem ja auch in Ihren übrigen Arbeiten – in den Gedichten wie auch in den Prosa-Texten.
GÜZEL: Das stimmt. Ich mag den unmittelbaren Zugang, diese vermeintlich einfache Sprache, direkt in die Fresse. Pur, ohne Umwege oder Ausschmückungen. Einfach raushauen, das habe ich schon als Kind so gemacht.
kultur.west: Sie sind 1972 in Duisburg-Hamborn geboren und aufgewachsen in Marxloh. Wann und wie genau haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
GÜZEL: Ich war vielleicht zwölf und nicht besonders kommunikativ. Mit dem Schreiben habe ich mir so eine eigene Welt gebaut. Wie eine Art Tagebuch, in das alles Erlebte und Gesehene notiert wurde. Auch heute noch schreibe ich wirklich jeden Tag und werde in diesem Jahr bestimmt wieder auf zehn Bücher kommen. Vor kurzem erst habe ich ein Chatbook veröffentlich mit ganz vielen Gedichten.
kultur.west: Sie bringen all ihre Bücher seit 2014 im Eigenverlag heraus – das scheint ungewöhnlich. Warum nehmen sie diese Mühe auf sich?
GÜZEL: Weil ich die Unabhängigkeit liebe. Es kommt meinem Naturell entgegen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, mit einem Verlag zusammenzuarbeiten. Andere sehen das als Schutz, für mich bedeutet es Einengung.
kultur.west: Zu den Veröffentlichungen kommen Lesungen weit übers Revier hinaus.
GÜZEL: Meine Gedichte möchte ich deutschlandweit verbreiten und auch sonst über den eigenen Tellerrand hinausblicken. Ich bin zum Beispiel im Beirat für das Gastarbeiter-Denkmal in Dortmund, weil es mich interessiert, die Kunst von anderen zu sichten.
kultur.west: Demnächst liegt dann sicher wieder die aktuelle Lokalzeitung aus einem Revier-Städtchen auf ihrem Schreibtisch – bereit für ein neues »Local Blackout«?
GÜZEL: Ja,im Februar steht Marl auf dem Plan. Ich freue mich auf Tunay Önder, die dort auftreten wird – eine tolle Künstlerin. Überhaupt bin ich immer wieder begeistert von der Stimmung bei den Snail-Tour-Aktionen. Sie kommen so unspektakulär, so unverkrampft daher. Nicht auf die laute Tour, nach dem Motto »jetzt müssen wir unbedingt etwas raushauen«. Viel eher ist es ein unaufdringliches Angebot – das finde ich schön.
Zur Person
Lütfiye Güzel wurde 1972 als Kind einer türkischen Familie in Duisburg geboren und wuchs zusammen mit vier Schwestern im Stadtteil Marxloh auf. Seit zehn Jahren bringt die Dichterin ihre Werke unter dem eigenen Label go-güzel-publishing heraus. 2014 erhielt sie den Fakir Baykurt Kulturpreis der Stadt Duisburg, wo sie heute noch lebt, und 2017 den Literaturpreis Ruhr. Ihr aktuelles Buch »ich.soll.ruhiger.werden« ist Lyrikempfehlung 2024 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Termine
Wenn die Grand Snail Tour am 13. Februar in Marl Station macht, wird Lütfiye Güzel ihr neuestes »Local Blackout« präsentieren. Ihre nächste Lesung findet am 20. Februar bei Pact Zollverein in Essen statt. In der neuen Reihe »Duo:Donnerstag« tritt die Dichterin dort gemeinsam mit der Musikerin Güner Künier auf.