»Die Republik der Biber«, wie Goethe die unmögliche Stadt nannte, bleibt die meiste Zeit unsichtbar. Nur die Lagune sehen wir, das schimmernde Wasser der Kanäle, der »Backstreets«, Lichter und ferne schmale Silhouetten, hier und da eine Brücke. Das optische Echo der zu Tode fotografierten Serenissima. Mal ein Feuerwerk wie für eine Operette, mal ein Dock, mal eines der monströsen Touristenschiffe, das sich ins Bild schiebt, mal eine Gondel, auf deren Innenholz die Rialto-Brücke bunt gemalt ist. Dafür viel Grün von Pinien und Zypressen, Inseln im Strom, Liegewiesen, Felder, die bewirtschaftet werden, der Abglanz des Meeres – und eine Gruppe junger Leute.
Halbstarke hätten sie früher geheißen, Müßiggänger, kriminell vielleicht, wer weiß, jedenfalls am sozialen Rand, mit coolen Sonnenbrillen und Calvin-Klein-Shirts im Rap-Rhythmus. Was bei James Dean die frisierte Limousine war, sind hier Speed-Boote, die zu hämmernder Musik übers Wasser jagen oder deren Motoren präpariert und repariert werden. Am Steuer ein Bursche wie Daniele (Daniele Barison) mit geschorenem Schädel, vollen Lippen und müdem Blick, neben ihm ein Mädchen, das sich unglücklich nach ihm sehnt, aber eben keine »machina« und deshalb zweite Wahl ist.
Es ist die übernächste Generation nach Pasolinis »Ragazzi di vita« aus dessen literarischen Momentaufnahmen, die der 50-jährige Videokünstler und Filmemacher Yuri Ancarani in seinem semifiktionalen, halbdokumentarischen Film porträtiert. Chillen oder verzweifeln oder beides. Einmal liegt Daniele blutend auf dem Pflaster wie die erstochenen Mercutio und Tybalt bei Shakespeare, oder ist er vielleicht doch Romeo? »Schlafen, vielleicht träumen«, wie ein anderer todesmutiger Shakespeare-Held überlegt. Später vermelden die Nachrichten, dass der 24-jährige Daniele Zanon bei einem Brandunfall mit seinem Boot gestorben sei. Der Film feiert und betrauert seinen Tod in einem farbspektakulären Requiem.
Doch letztlich verschwinden die Menschen und ihre Geschichten hinter den Bildern. Und die haben es in sich, bzw. sie veräußern sich auf schönheitstrunkene Weise, die einem absurd und unstatthaft erscheint und der man doch verfällt. Die bildhafte Inszenierung lässt noch eine schlierige Ölspur im Wasser schillern wie Monets Seerosenteich, ein hässlicher Wasserspender wirkt wie das Requisit für ein melancholisches Stillleben, ein nächtlicher Wald ragt wie auf einem von Böcklins Toteninsel-Gemälden, und die schwimmende Hotelbettenburg erhält die höheren Weihen durch gelb-weiches Spätlicht und verwandelt sich in ein Märchenschloss. Der Horizont entzündet sich im flüssigen Orange-Rosa der Dämmerung, die Stadt liegt versunken in Satinblau wie unter Laken, Wolken ziehen wie über einen Theaterprospekt. Es sind Werbebilder für das Vergehen. Patricia Highsmith würde sich vermutlich dagegen wehren. Baz Luhrman hat in Yuri Ancarani einen Konkurrenten bekommen.
Venedig bildet für immer und ewig das »Ufer der Verlorenen«, wie der russisch-amerikanische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky seine poetische Hommage nannte. So laut kann kein Motorboot knattern, dass es den Klang dieser Tristan-Melodie übertönen würde.
»Atlantide«, Regie: Yuri Ancarani, Italien /Frankreich / USA / Qatar 2021, 104 Min., Start: 8. September