Bei »Theater Total« nehmen sich junge Menschen fast ein ganzes Jahr Zeit, um alles rund um den Bühnenbetrieb zu erlernen, um ihre Persönlichkeiten und Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Jetzt steht ein Jubiläum an: Das Bochumer Projekt, das deutschlandweit agiert, wird 30 Jahre alt und ist im Umbruch.
Ein Jahr lang Theater spielen und sich dabei auch auf den Weg zu sich selbst machen, Ideen und Pläne für die Zukunft finden. Diese schöne Utopie verwirklicht das Projekt »Theater Total« in Bochum seit 30 Jahren mit jungen Menschen aus ganz Deutschland. Das Jubiläumsjahr ist eine wichtige Grenzmarke: Nicht nur personell ist das Projekt im Umbruch, auch der Zeitgeist hat sich möglicherweise von der Idee wegentwickelt, sich in jungen Jahren viel Zeit für die eigene Entwicklung und Zukunftsentscheidungen zu nehmen.
Leon Brüggemann hat es getan. Er hat in der Saison 2017/18 am Projekt »Theater Total« teilgenommen. Damals hieß das noch: Irgendwann nach der Schule (zwischen 16 und 26 Jahre alt sollen die Teilnehmer*innen sein) begibt man sich ein ganzes Jahr mit 20 bis 30 anderen jungen Menschen nach Bochum und arbeitet erst an einer (Tanz-)Performance und dann an einem Theaterstück. Nach ein paar Jahren, in denen er sich unter anderem als freier Schauspieler versucht hat, ist er ins Ruhrgebiet zurückgekehrt und wirkt jetzt als stellvertretender Leiter und Dramaturg bei »Theater Total«. Er erklärt: »Die Kennenlern-Workshops für den neuen Jahrgang sind wieder am 26./27. und 28./29. Juni. Die Bewerberinnen und Bewerber bleiben immer eine Nacht hier.«
Leidenschaft für Shakespeare
Amira Dorloff aus dem gerade zu Ende gegangenen Jahrgang ergänzt mit einem Augenzwinkern: »Damit genug Zeit ist für die Horrorstorys: Man hat keinen Tag frei, man bekommt nicht genug Schlaf…«. Elias Magerstädt, der ebenfalls teilgenommen hat, sagt: »Natürlich gibt es freie Tage«, aber er findet: »In der Probenzeit will man gar keinen Tag Pause machen, da ist man so drin im Prozess, fiebert der Premiere entgegen.« Amira und Elias gehören zu einer kleinen Gruppe von jungen Menschen, die sich nach dem Abschluss ihres Jahrgangs entschlossen haben, die Räume von »Theater Total« am Bochumer Werk weiter zu nutzen, um dort an einer Märchen-Inszenierung zu arbeiten. Ihre Motivation dafür liegt irgendwo zwischen »einfach so«, »Vorbereitung auf Vorsprechen an Schauspielschulen« und »damit auf Tour gehen und neue Mitglieder für das Projekt werben«. Genau das ist der Geist des Projekts: Man macht irgendwie alles auf einmal.
In den Räumen in der Nähe der Bochumer Königsallee, die das Werk Eickhoff zur Verfügung stellt, sind Büro-, Küchen-, Aufenthalts- und Proberäume eng beieinander. Wenn man durch das denkmalgeschützte Treppenhaus und die Flure wandelt, entdeckt man Plakate und Foto-Collagen der vielen vergangenen Jahrgänge. Wer auf die Plakate für die großen Abschlussstücke schaut, dem fallen zwei Dinge auf: Zum einen sind viele Stationen der »Theater-Total«-Tournee Waldorfschulen in ganz Deutschland.
Tatsächlich hat das von Barbara Wollrath-Kramer ins Leben gerufene Projekt eine gewisse Nähe zu den anthroposophischen Einrichtungen, auch Fördermittel kommen von dort. »Aber es gibt auch ganz bewusst eine, ich nenne es mal, ‚Waldorf-Quote‘«, sagt Leon Brüggemann. »Nicht mehr als 40 Prozent der Teilnehmer sollen von Waldorfschulen kommen, damit man sich nicht nur innerhalb einer Blase bewegt.«
Was beim Betrachten der Plakate außerdem auffällt: Seit 15 Jahren war das Abschlussstück immer von Shakespeare. Diesen Januar war es der »Hamlet«, im Jubiläumsjahr wird es vielleicht »Wie es euch gefällt« werden – wie 2011. Das liegt zum einen an der Shakespeare-Leidenschaft von Barbara Wollrath-Kramer. Aber auch auf junge Menschen übt der mythenumrankte Autor offenbar bis heute eine große Faszination aus. Amira Dorloff zumindest ruft aus: »Gerade auf ‚Hamlet‘ hatte ich übertrieben Bock! Ich liebe diese Geschichte, weil alles darin vorkommt, weil sie mich sehr berührt. Am Ende sind alle Protagonisten tot, weil Hamlet den falschen Weg genommen hat, weil er Feuer mit Feuer bekämpfen und zum Mörder werden wollte.«
Barbara Wollrath-Kramer sagt: »Mein größtes Anliegen ist, dass junge Menschen lernen, Verantwortung zu tragen – für sich, für andere, für unsere Umwelt.« Deshalb geht es bei »Theater Total« nicht nur darum, Schauspiel zu lernen. Professionelle Künstler*innen und Fachleute schulen die Teilnehmer*innen in den Bereichen Schauspiel, Bewegung, Stimm- und Gebärdentraining, Tanz, Gesang, Tai Chi, Fechten und Bühnenkampf. Künstlerisch verwischen so die Grenzen zwischen klassischem Sprechtheater, Tanz-, Musik- und Physical Theatre.

Mit der Zeit übernehmen die Jugendlichen bei »Theater Total« außerdem den gesamten Betrieb, der rund um Aufführungen an der Bochumer Heimbühne in einer nahen umgenutzten Kirche und Tourneen im deutschsprachigen Raum dazu gehört: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Marketing, Design, Sponsoring/Fundraising, Tournee-Organisation, Haushaltsführung, das Begrüßen des Publikums und mehr. Außerdem leben die Teilnehmer*innen einen großen Teil ihrer Tage zusammen, kochen gemeinsam, halten Ordnung in den Räumen, kümmern sich nicht zuletzt auch um Bühne und Kostüme. Wobei man heute nicht mehr zu aufwändigen Bühnenbildern tendiert und beim Kostüm auf einen großen Fundus im Haus am Werk Eickhoff zurückgreifen kann.
Dass manches bei »Theater Total« im Umbruch ist, merkt man allein daran, dass Initiatorin und Leiterin Barbara Wollrath-Kramer beim Pressebesuch nicht dabei ist. Früher hätte sie sich das sicher nicht nehmen lassen. Heute hat sie allerdings die 70 Jahre überschritten und merkt wie ihr Mann Nils Kramer, der auf die 80 zugeht, noch als Technischer Leiter des Projekts firmiert, dass ein Übergang in andere, jüngere Hände an der Reihe ist. Ihr Stellvertreter Leon Brüggemann erzählt außerdem, dass Corona für eine Zäsur im Projekt gesorgt hat. »Es gab viele Diskussionen um den Umgang damit. 2020 musste der Jahrgang verfrüht enden. Auch danach wurden die Teilnehmerzahlen der Jahrgänge halbiert, die Zeiträume verkürzt.«
Berühmte Ehemalige
Auf einmal dauerte »Theater Total« nur noch ein halbes Jahr, die Tournee, die unter den jungen Schauspielenden immer besondere Begeisterung und Leidenschaft entfalten konnte, fiel weg. Erst »Hamlet« konnte wieder auf eine kleine Gastspielreise gehen. Und der Jubiläumsjahrgang wird wieder neun Monate Zeit für die künstlerische- und Persönlichkeitsentwicklung haben. Was das Team in den vergangenen Jahren außerdem bemerkt hat: Die Zahl der Bewerbungen wurde weniger. Flatterten früher 80 bis 100 ins Haus, sind es heute eher 50 bis 60.
Über die Gründe können Leon Brüggemann und die aktuellen Teilnehmer*innen nur spekulieren: »Vielleicht hat sich geändert, was man nach der Schule gern machen möchte: Man geht lieber ins Ausland oder macht ein Freiwilliges Soziales Jahr. Viele nehmen sich generell nicht mehr ein ganzes Jahr Zeit, um zu schauen, was sie möchten«, sagt Elias. Und Amira denkt: »Vielleicht gilt Theater auch als eher uncool, viele gehen gar nicht mehr den Schritt, sich das überhaupt mal anzuschauen.«
Vielleicht ist aber auch der fehlende Tourneebetrieb ein Problem – weil der Name »Theater Total« sich dann nicht mehr so weit trägt über die beste Propaganda – von Mund zu Mund. Allerdings läuft der ja jetzt wieder an. Und das Jubiläumsjahr soll das Projekt auch auf andere Weise nochmal neu anschieben. »Wir haben alle Ehemaligen eingeladen«, sagt Leon Brüggemann, »das sind schon allein 800 Leute.« Darunter sind viele, die heute bekannte Namen im Schauspielbetrieb sind: Lina Beckmann, die vor kurzem den Gustaf-Gründgens-Preis verliehen bekam, hat das Theater-Total-Jahr genauso durchlaufen wie Maddy Forst oder Paul Lux, den man zum Beispiel aus der Serie »Dark« kennt. Schauspieler Philipp Quest ist ein Ehemaliger, spielte in vielen Fernsehfilmen, auch in »Tatorten«. Er ist heute fest am Theater Oberhausen und hilft den aktuellen Teilnehmer*innen von »Theater Total«, sich auf Vorsprechen vorzubereiten.
In jedem Jahrgang gibt es einige, die sich direkt danach an Schauspielschulen bewerben. »Man bewirbt sich überall, das ist total stressig«, erzählt Luz Lipp, die sich wegen ihres niederländischen Vaters auch in den Niederlanden bewirbt. Erik aus ihrem Jahrgang sei erst nach dem elften Vorsprechen an einer Schule angenommen worden. Amira wollte eigentlich erst Psychologie studieren, aber während des »Theater-Total«-Jahres merkte sie: »Das macht so Spaß, auch Tanz und Gesang – und das ist alles Teil der Schauspiel-Ausbildung.« Längst nicht alle sind versteift auf eine Schauspiel-Karriere. In Bochum machen sie sich mit der Möglichkeit dazu vertraut – aber haben auch genug Zeit, andere Ideen zu spinnen.
Infos zur Bewerbung unter: theatertotal.de