Einmal zitiert Steven Scharf als Darsteller des Johan Nagel in Knut Hamsuns »Mysterien« – und erinnert damit an die eine Woche zurückliegende Premiere an gleicher Stelle im Schauspielhaus Bochum von Dantes »Das neue Leben« – Folgendes: »Man muss es auch mal sagen!«. Er meint damit das ewige Um-den-heißen-Brei-Herumreden über die Liebe. Auch wenn es weit hergeholt scheint, gibt es Verbindungen zwischen dem Bochumer Dante und dem Bochumer Hamsun. Sie liegen im Sprachlosen und Sprachmächtigen. Und darin, dass beide Aufführungen mit einem großen Intermezzo und Pausenzeichen arbeiten, damit, dass sie dem Unsagbaren Atem und den Körpern reichlich Spielraum geben.
Der etwa 30-jährige Dante Alighieri, dessen 700. Todestag soeben begangen wurde, tritt in seinem Frühwerk »Vita Nova« mit Frau Minne in herzlichste Beziehung, seit der neunjährige Knabe in Beatrice »die glorreiche Fraue meiner Seele« erkennt, ob diese nun allegorisch oder konkret sein mag. Im Wechsel von Prosa und Poem schildert er seine fromme Passion, die keineswegs endet, als die Verehrte stirbt. Der sehnsüchtig Liebende wird durch die Schmerzerfahrung und den Zustand des Unerfüllten zu einem Verwundeten und Verwundbaren – und zum edlen Gemüt und Dichter. So steigt er in der »Commedia« hinab in die Unterwelt und hinauf zum Paradies, wohin der Schatten Beatrices ihn leitet.
Die ferne Geliebte und die sprechende Liebe – das gehört zusammen. »Lass es einfach raus«, fährt der strumpfbeinige William Cooper als eines von vier Dante-Erzähl-Ichs genervt einem zweiten Ich in die stotternde Monolog-Parade. Mit Anna Drexler, Anne Rietmeijer und Damian Rebgetz teilt er sich in die Gefühls-Recherche. Der die Saison in Bochum programmatisch eröffnende Titel »Das neue Leben« wie auch der Subtext der Inszenierung enthalten all die Verlustanzeigen, die Dantes Epoche an die epidemische unserer Gegenwart wie mit Leichenbändern bindet. Das neue Leben sucht auch Hamsuns Held und Alter Ego, Johan Nilsen Nagel in »Mysterien«. Der Abgrund ist schon da – lauernd. Die Bühnenmaschinerie legt ihn offen. Was tut es da, dass noch Möbel wie vom Trödel herumstehen, ein Doppelbett hydraulisch hochfährt und ein rostiges blaues Bassin das Meer ersetzt. Der Ort ist eine Kleinstadt, aber in Wahrheit der Kampfplatz Leben. Der Abgrund wohnt in Nagel selbst, der in Gestalt von Steven Scharf wie beiläufig von der Seite her auftritt und kein Wesen von sich macht. Als »Scharlatan« wird er vorgestellt, ein Flunkerer, aasiger Stenz im kanariengelben Anzug, den die Roman-Vorlage verlangt, ein Verzweifelter nicht minder. Alles in Allem ein radikal moderner Mensch von 129 Jahren.
I will always love you
Triumph der Imagination über die Erdenschwere – darum geht es in beiden Stoffen und Inszenierungen. Christopher Rüpings Dante-Verflüssigung in ihrer kunstvoller Kunstlosigkeit irisiert zwischen Etüde und Attitüde, Andacht und Aufmüpfigkeit, Selbstverliebt-Sein und Selbstverlorenheit. In schönster Direktheit schickt Rietmeijer den Tod zum Teufel, während William Cooper den Kontakt mit ihm theatral auskostet. Drexler kobolzt, Rebschetz leuchtet in seiner manieristischen Sonderheit. Innig, zärtlich, anrührend, treuherzig in kindlichem Ernst ist dieses »Neue Leben« – dabei nie ohne Raffinesse. Dantes Sonette öffnen sich mit einem anderen Notenschlüssel zu einem musikalischen Paradies, in dem Hymnen von Meat Loaf und Britney Spears etc. ewiglich funkeln. Sie feiern den popkulturellen Liebesgottes-, Götzen- und Diven-Dienst: »I will always love you« erklingt als profane Marienvesper.
Auf der leeren Bühne sind neun weiße Kreise eingezeichnet. Nach Beatrices irdischem Tod bewegt sich – in einem langen stummen, spektakulären Intermezzo – ein magischer Lichtkreisel über die Kreise hinweg; Gestalten im Faltenwurf des Mythischen zelebrieren ihre Soli. Auftritt: Beatrice, ganz in Weiß, von Viviane de Muynck vollendet abgeklärt verkörpert. Sie gibt Nachricht aus dem Jenseits. Die Unterweltliche hat den nüchternen, nachsichtigen und unduldsamen Realismus der Tod-Vertrauten. »Es war, was es war«, so wischt sie romantische Flausen hinweg. Am Ende heißt es doch immer: Verzicht und es auszuhalten.
Auch Johan Nagel kennt keine Sentimentalität mit sich. Hamsun verarbeitete seine bitterarme Kindheit und Jugend in seinem Debüt »Hunger«, kämpfte um Broterwerb, suchte 1882 in Amerika sein Glück, das er nach einem zweiten Besuch als seelenlose Gesellschaft angewidert verwirft, und etablierte sich nach seiner Rückkehr in Norwegen als freier Schriftsteller. 1892 erscheint »Mysterien« mit dem charismatisch provokativen Helden, ein »Ausländer des Daseins«, der sich ins Meer stürzen wird. Hamsun begrüßt die Nazis mit ihrem Blut- und Bodenmythos und ihren wüsten irrationalen Fantasien, macht sich in seiner Heimat Norwegen unmöglich und schuldig und bleibt bis zu seinem Tod 1952 Unperson.
Das entfesselte, zugleich in seinem existentiellen Sein gebundene Ich, das den Autor und seine Figur kennzeichnet, trifft als Typ und Charakter immer noch, dessen psychisches Mysterium Hamsun bei Dostojewski und Nietzsche vorgebildet fand. Die Linie zieht sich bis zu Camus’ Fremdlingen, Max Frischs Rollenspielern und Ich-Täuschern oder Ciorans hellsichtigen Schwarzsehern.
Der Roman ist das ausschweifende Konstrukt eines geistigen Zustands. Die Handlung beansprucht mehr Kopf als Welt. Es gibt zwei Liebeswerbe-Geschichten, die mit der älteren Martha (Karin Moog) und der jungen Pfarrerstochter Dagny (Anne Rietmeijer) sowie die seltsame Beziehung zu dem zu kurz gekommenen, »Minute« genannten Freund-Feind Johannes (Guy Clemens) und einige Personen und Episoden mehr. Einmal erscheint auf der Rückwand groß ein Flimmern wie während einer Bildstörung des Fernsehens: Die Welt ergraut. Als wäre es ein Film von Antonioni, so begegnen die Personen hier dem Schau-Steller und Traum-Seher blinder Engel namens Nagel.
Bochumer Stil
Johan Simons räumt mit lässiger Hand die Bühne von Anja Rabes auf, so dass die sechs Darsteller wie Figurinen auf einer De Chirico-Piazza zu stehen scheinen, lässt sie gestische Zeichenrätsel sein, pantomimisch, tänzelnd, neurasthenisch sich gebärden, lässt sie Sprach-Akrobaten sein, die als reale Phantome ihren Text wie eine Partitur oder Kommentierung vortragen. Sie sehen aus wie ausgeschnitten für ein Bilderalbum des baldigen Expressionismus. Herb und schroff, zwanghaft und getrieben, grausam, glücklos und von bitterer Erkenntnis – so geht es zu bei diesen menschlichen Denk-Maschinen. Und in greller Komik, wenn Nagel den von ihm gemeuchelten Hund Dagnys als Plastikbalg zum Bettgenossen hat, und wenn ihm der Gift-Suizid im Schneewittchen-Sarg durch einen Trick misslingt. Tote leben hier länger.
Fast wie zum Trost erklingt Musik. Ein schöner Effekt lässt Streicher der Bochumer Symphoniker mit Clownsgesichtern, die Kompositionen von Carl Oesterhelt spielen, nicht nur auf der Bühne schemenhaft sichtbar seinc, sondern in Projektionen als augentäuschende Vision auf den Parkett-Seitenwänden. Ein schwebendes Element in dem imaginären Kunstweltseelen-Raum.
Es gab den Bochumer Stil zu Zeiten der Intendanz von Zadek und Peymann, Steckel und auch von Leander Haußmann. Danach nicht mehr. Nun wieder. Er konnte lustvoll, frech, grimmig, ernst oder toll phantastisch sein, immer war er erkennbar, längst bevor es den Begriff corporate identity gab. Unter Johan Simons hat das Theater wieder zu einem Bochumer Stil gefunden, aufgelöst in Atmosphäre, Form und Funktion. Bei aller biegsamen Spiellust des bis ins Kleinste wunderbaren Ensembles ist er bar ornamentaler Adrettheit, frei von Aufwand und kaloriensatter Fülle – um den Preis manch einer leeren Stuhlreihe. Das Bochumer Schauspielhaus gleicht einer Ernüchterungs-Zelle, in der man trocken gehalten wird – um des Lebens willen.
»Das neue Leben«: 10. Oktober; »Mysterien«: 23. Oktober, Schauspielhaus Bochum