Wir wollen nicht vom Kino ablenken, sondern zum Kino hinlenken, zu dem, was es war und – wieder – ist. Jeden Monat stellen wir einen Klassiker des deutschen und internationalen Films vor, der nicht immer zum Kanon gehört, aber eine Rarität und Kostbarkeit ist. Bei einem der Anbieter lassen sie sich ausleihen, als DVD kaufen, zur Not bei YouTube besichtigen. Nur Netflix-Serien zu schauen, verengt den Blick.
Knapp verpasst er den Bus, die Tür schnappt vor ihm zu. Alfred Hitchcock hat seinen Cameo-Auftritt – er wurde zu einem Markenzeichen und running gag seiner Filme, meistens mit Abschluss des Vorspanns absolviert. Damit die Zuschauer, indem sie auf ‚Hitch’ warten, sich nicht ablenken lassen vom dramatischen Geschehen. Man hätte auch keine Zeit dafür und muss zusehen, nichts zu verpassen. Denn »North by Northwest« / »Der unsichtbare Dritte« konfrontiert uns direkt mit dem Trubel Manhattans und seiner quirligen Menschenmasse.
Ein Film der Bewegung, großstädtischer und auch ländlicher, vorangetrieben in Autos, Taxis, im Bus, Zug, Flugzeug. Auch ein Film über Anonymität, wie wir sie aus den Gemälden von Edward Hopper kennen mit ihren isolierten und separierten Menschen. Männer und Frauen, die mit falschen Identitäten spielen, Namen anprobieren und ablegen wie Kleider, Verwechslungen, Täuschungen, Hotellobby- und Hotelzimmer-Existenzen von unpersönlicher, formaler Unverbindlichkeit. Wie der Werbefachmann Roger O. Thornhill, den die Schurken – Phillip Vandamm, ein kultivierter, sinistrer Verkäufer von Staatsgeheimnissen (James Mason) – für George Kaplan halten, ihn entführen, ihn jagen, ihn aus dem Weg zu schaffen suchen.
Ebenso ein Film über Amoralität im Dienst des Guten, also über Amerika, der keineswegs zufällig am Mount Rushmore endet und den Kampf auf Leben und Tod platziert zwischen die in Stein gemeißelten Köpfe der vier US-Präsidenten Washington, Jefferson, Lincoln und Teddy Roosevelt (es bleibt zu hoffen, dass die Gebirgslandschaft noch Platz hat für einen fünften, und ahnen, wer sich da verewigen wollen würde).
Dabei immer ein Film der Unübersichtlichkeiten, des Disparaten und Undurchsichtigen. Ein Film, bei dem uns das diffuse Empfinden streift, er sei ein Spiegelbild seiner Gegenwart, der Moderne – und das gilt noch sechseinhalb Jahrzehnte nach Erscheinen dieses intelligenten Werks im Jahr 1959.
Schließlich ein Liebesfilm bzw. ein Film über die Liebe. Alfred Hitchcock, der Großmeister des Thrillers, hat etwas Entscheidendes gegenüber François Truffaut gesagt, der ihn wie alle französischen Regisseure der Nouvelle Vague und so viele andere Filmkünstler bewundert hat: Man müsse Liebesszenen wie Mordszenen drehen – und umgekehrt. Die Hand legt sich um den Hals des / der anderen.
Cary Grant gerät wie eine Figur bei Kafka schuldlos-schuldhaft in ein scheinbar irrationales System. Weshalb vielleicht doch schuldig? Weil er ein verwöhnter Muttersohn ist (wir begegnen eine der vielen abgründig besitzergreifenden, hier ins Boulevardeske verwandelten Mütter in Hitchcocks Filmen) und zynischer Werbefachmann, der Barkeepern gegenüber seine wesentliche Verpflichtung fühlt. Thornhill muss sich entscheiden: klassisches Motiv eines jeden Dramas. Will er sein banales Leben weiterführen, oder riskiert er etwas?
Anders gesagt, er muss ein Mann werden, der (sich) eine Frau verdient. Und was für eine! Eine der legendären kühlen, blonden Göttinnen aus Hitchcocks Welt: Grace Kelly, Tippi Hedren, Kim Novak und hier Eva Marie Saint als Eve Kendall, Agentin des CIA oder FBI, das spielt keine Rolle. Wir wissen nie genau, ob ihr Kuss nicht doch der Todeskuss ist. So dass die Angstlust uns nicht verlässt über das Finale hinaus, das in »North by Northwest« sexuell aufgeladen ist. Der Zug, der Roger und Eve in die Flitterwochen fährt, rast in einen nachtschwarzen Tunnel.






