Die Ruhrfestspiele präsentieren als Deutschlandpremiere Christoph Marthalers neue theatrale und musikalische Erkundung des Menschlichen und Menschenmöglichen: »Der Gipfel«.
Ob Goethe das Stichwort geliefert hat? Aber bei Christoph Marthaler denkt man ohnehin – also auch bei »Gipfel« – an Ruh’. Womöglich an ewige Ruhe. Obwohl eigentlich mehr an Abgründe, Abstürze. Wenn aber Gipfel, dann eher die Mühe und weniger der Triumph des Überwindens. Gipfelstürmer sind die Bühnenfiguren des sprach-musikalischen Regiekünstlers aus der Schweiz beileibe nicht. Vielmehr Helden der Schwäche, denen die Müdigkeit in den gleichwohl elastischen Gliedern steckt und die den stillen Winkel suchen. Nur nichts überstürzen.
Gipfel aber meint metaphorisch noch etwas anderes. Es treffen sich Staats- und Regierungschefs zu Gipfeln, Beratungen, Konferenzen, Entscheidungsfindungen von globalem Ausmaß über Wohlstand und Wehe, Krieg und Frieden, nicht zuletzt in Davos, Austragungsort eben des Weltwirtschaftsgipfels. Damit ein paar Steinwürfe entfernt vom Internationalen Sanatorium Berghof, gelegen auf dem »Zauberberg«, wo Thomas Mann vor 100 Jahren sein europäisches Panorama und Kolloquium des Vorkriegs (des Ersten Weltkriegs) versammelt. Befindet sich Europa nicht wieder an einer Wegmarke und »Zeitenwende«, einem grundstürzenden Geschichtsmoment?
Melancholie des Vergeblichen
Der Begriff des »Weltverlorenen«, der Marthalers Möglichkeitsmenschen umweht, hat zwei Aspekte: der Welt verloren und verlorene Welt. Singen tut not bei ihm. Leise flehen Lieder in den von Anna Viebrock entworfenen Wartesälen des Lebens, geräumigen Abstellkammern, geschlossenen Schaltern des Schicksals und Filialen der Verzweiflung. Die Bühnenfiguren, denen Marthaler seine Protestnoten andichtet, sind zur Chiffre geworden: für das Umsonst, das Trotzdem, das nicht Zweckdienliche. Fortschritt gerät ins Taumeln und bringt sich zur Kapitulation. Melancholie des Vergeblichen. Sisyphos ist in den Szenen des Verneinens, Verweigerns, Widerspruchs ein Ahnherr, ein weiterer ist Bartleby der Schreiber. Dem Notargehilfen gab sein Autor Herman Melville die Formel »I would prefer not to« mit auf den kurzen Lebensweg. Aber die Entsagung vollzieht sich aus freiem Geist heraus: Auch die Negation verfügt über Kräfte.
Aus dem Gespräch mit dem Dramaturgen Malte Ubenauf über das »Gipfel«-Projekt lässt sich ein zeitnaher, akut gegenwärtiger, beinahe »überkonkreter« Stoff und thematischer Stückaufbau heraushören. Im Mittelpunkt: das Zoon politikon (das „politische Tier“), der Mensch als Gefährder und gefährdeter Erdenbewohner, der dem Zustand der Welt, wie sie ist, nicht ausweichen kann. Was aber können hochrangige Meetings ausrichten? Beobachten wir nicht eine »Diskrepanz«: einerseits Spitzenkonferenzen, zum anderen deren »Wirkungslosigkeit«? Das fragen Ubenauf und Marthaler.
Ankunft hoch droben in einer Berghütte, durch deren Fußboden die Bergesspitze hindurchsticht. Womit ein surrealer Moment in die Realität des Ortes buchstäblich hineinragt. Gleichwohl und abermals findet sich eine von Marthaler vertraute Spezies ein: nicht näher definierte Exzentriker und Extremisten ihrer Ambitionen, die es hinaufgeschafft haben, die ganz oben angekommen sind. Mögen sie auch wie sportive Bergwanderer ausschauen, es steckt noch anderes in ihnen: Business People, Spin-Doktoren, Regierungs-Chargen, womöglich. Aber damit ist es nicht getan, dabei bleibt es nicht. An Kipppunkten verändert sich der Verlauf der Aufführung, schafft Irritation, lässt zweifeln an der Identität der Figuren. Sind es nicht auch luxusverwöhnte Freizeitmenschen, die den Kitzel und gesteigerte Abwechslung suchen, sind es nicht doch allerhöchste Repräsentanten, die sich in Schale werfen? Oder sind sie nicht noch etwas anderes, gravierenderes, dramatischeres? Letzte Fragen!
Recklinghausen, Kleines Festspielhaus
Vorstellungen: 1., 2., und 3. Juni